Meister Li 01 - Die Brücke der Vögel
und skrupellose Freunde besaß. Sie machten sich sofort ans Werk, seinen Kopf zu retten, und bestachen als erstes den vom Kaiser favorisierten Wahrsager.
»O Sohn des Himmels«, rief er beschwörend, »ich habe die Drei Stäbe befragt. Diese merkwürdige Mauer ist die wichtigste aller Befestigungen, und nur der Erhabene Jadekaiser kennt die Gründe! Sie ist so wichtig, daß nicht Sterbliche dort Wache halten sollen, sondern die Geister von zehntausend Soldaten, die lebend in den Fundamenten begraben werden müssen!«
Für einen Kaiser war dieser Kaiser sehr menschlich, und er bat den Wahrsager, die Drei Stäbe noch einmal zu befragen, um sich zu überzeugen, ob sich nicht ein Irrtum eingeschlichen habe. Der Wahrsager nahm noch einmal Bestechungsgelder entgegen und kam mit einer anderen Auslegung zum Kaiser.
»O Sohn des Himmels, die Drei Stäbe sagen eindeutig, daß Wan lebend in den Fundamenten zu begraben ist. Wan kann zwar zehntausend bedeuten, aber es ist auch ein weit verbreiteter Familienname!« verkündete er mit hohler Stimme. »Es liegt auf der Hand, was zu tun ist, denn was bedeutet das Leben eines unbedeutenden Soldaten im Vergleich zu der wichtigsten Mauer von ganz China?« Dem Kaiser gefiel das immer noch nicht, doch er schien keine andere Wahl zu haben. Deshalb befahl er seinen Wachen, den ersten einfachen Soldaten mit dem Namen Wan, der ihnen über den Weg lief, festzunehmen. Alle Berichte stimmen darin überein, daß Wan sich mit großer Würde in sein Schicksal fügte. Man setzte seiner Familie eine Rente aus. Ihm erklärte man, der Himmel habe ihn vor allen anderen ausgezeichnet. Er erhielt eine Trompete mit Auftrag, Alarm zu blasen, falls China Gefahr drohe. Dann schlug man eine Kammer in das Fundament der Mauer, und Wan marschierte pflichtschuldigst hinein. Die Öffnung wurde wieder verschlossen, und man errichtete auf dem höchsten Punkt des Drachenkissens einen Wachturm - das Drachenauge -, wo Wans Geist seine einsame Wache halten konnte.
Der Kaiser war der ganzen Sache so überdrüssig, daß er verbot, diese verwünschte Mauer und jeden, der damit zu tun hatte, in seiner Gegenwart noch einmal zu erwähnen. Und natürlich hatten die schlauen Freunde des Generals genau das von Anfang an geplant. Der General wurde in aller Stille freigelassen und konnte seine Memoiren schreiben.
Das Drachenkissen war beinahe hundert Jahre lang ein beliebtes Ausflugsziel. Ein paar Soldaten wurden dorthin abkommandiert, um die Mauer instand zu halten. Doch da sie nur einem Geist diente, der dort Wache halten sollte, ließ man sie schließlich zerfallen. Selbst die Schaulustigen verloren das Interesse daran. Das Unkraut überwucherte sie, und die Steine begannen abzubröckeln. Für Kinder war das Drachenkissen ein Paradies, und einige Jahrhunderte lang war es der beliebteste Spielplatz für die Kinder meines Dorfes. Doch dann geschah etwas so Merkwürdiges, daß selbst die Kinder dort wegblieben.
Eines Abends spielten die Kinder von Ku-fu eines der Spiele, deren Ursprung am Anfang der Zeit liegt, erstarrten aber plötzlich vor Schreck. Eine hohle, körperlose Stimme - ein Junge erzählte später, es habe geklungen, als sei sie durch ein zweihundert Meilen langes Bambusrohr zu ihnen gedrungen - wehte vom Drachenauge zu ihnen herab. Sie hörten so seltsame Worte, daß alle Kinder sich genau daran erinnerten, obwohl sie Hals über Kopf davonstürzten, sobald sie wieder laufen konnten.
War es möglich, daß der arme Wan, der wichtigste aller Wächter auf dem wichtigsten aller Wachtürme durch die Kinder des kleinen Dorfes Ku-fu China eine Botschaft übermitteln wollte? Wenn ja, dann handelte es sich um eine sehr seltsame Botschaft. Wissenschaftler, Gelehrte und weise Männer bemühten sich jahrhundertelang, in den Worten irgendeinen Sinn zu finden.
Falls meine verehrten und geschätzten Leser das Rätsel lösen wollen, wünsche ich ihnen viel Glück.
Jadepracht
Sechs, acht.
Feuer, das heiß brennt,
Nacht, die man nicht Nacht nennt,
Feuer, das kalt brennt,
Silber
Gold
Doch wer es kennt, Sieht ein anderes Element.
2.
Die Heimsuchung
Meine Geschichte beginnt mit der Seidenernte im Jahr des Tigers 3337 (639 n.Chr.). Die Aussichten auf Rekorderträge waren so günstig wie nie zuvor.
Ma die Made verteilte sehr schöne, pechschwarze und vor Gesundheit strotzende Eier; die Blätter an den Maulbeerbäumen hingen so dicht, daß die Wäldchen wie Wandteppiche aus dunkelgrünem Brokat wirkten. Die
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