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Meister Li 01 - Die Brücke der Vögel

Meister Li 01 - Die Brücke der Vögel

Titel: Meister Li 01 - Die Brücke der Vögel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barry Hughart
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sechs stämmigen Dienern während ein prächtig gekleideter Lakai wütend die Faust hob und schrie: »Du wagst es, dem ehemaligen obersten Untersuchungsbeamten des Kaisers fünftausend in Kupfer anzubieten? Verzieh dich in deine Lehmhütte, du unverschämter Bauer!«
    Mit dem gleichen Ergebnis versuchte ich es in einem Haus um das andere; nur mein Abgang ging etwas würdiger vonstatten - ich ballte die Fäuste; meine Augen funkelten, und ich bin nicht gerade klein! -Ich entschied, es sei wohl notwendig, einem weisen Mann eins über den Kopf zu geben, ihn in einen Sack zu stecken und nach Ku-fu zu schleppen, ob er nun wollte oder nicht. Dann gab mir der Himmel ein Zeichen. Ich hatte das Ende der Allee erreicht und wollte auf der anderen Seite zurückgehen, als plötzlich ein Sonnenstrahl durch die Wolken brach und wie ein Pfeil in eine schmale gewundene Gasse schoß. Er fiel auf ein Schild mit einem Auge; doch dieses Auge stand nicht offen. Es war halb geschlossen.
    »Die Wahrheit wird teilweise enthüllt«, schien dieses Auge zu sagen. »Manche Dinge sehe ich, andere nicht.«
    Wenn es sich um diese Botschaft handelte, dann war es das erste Vernünftige, was ich in Peking gesehen hatte. Ich machte kehrt und ging in das Gäßchen.
     
     

3.
Ein Weiser mit einem kleinen Charakterfehler
     
    Es war ein altes und schäbiges Schild, und es hing über der offenen Tür einer schiefen Bambushütte. Als ich schüchtern eintrat, fiel mein Blick auf zerbrochene Möbel und eine Menge zerbrochenes Geschirr. Von dem Gestank nach abgestandenem Wein wurde mir ganz schwindlig. Der einzige Bewohner lag schnarchend auf einer dreckigen Matratze.
    Er war unglaublich alt und konnte kaum mehr als neunzig Pfund wiegen. Seine dünnen Knochen hätten eher zu einem großen Vogel gepaßt. Betrunkene Fliegen taumelten durch Weinpfützen, krabbelten frech auf dem kahlen Schädel des alten Mannes herum, stolperten die zerknitterten Falten eines zerknitterten Gesichts hinunter, das ohne weiteres eine Reliefkarte von China hätte sein können, und verirrten sich in seinem strähnigen weißen Bart. Zwischen den Lippen des alten Mannes bildeten sich kleine Bläschen und platzten, und sein Atem stank.
    Ich seufzte und wandte mich zum Gehen. Doch ich blieb wie angewurzelt stehen und hielt den Atem an.
    Ein bedeutender Besucher unseres Klosters hatte uns einmal das goldene Diplom gezeigt, das den Gelehrten verliehen wurde, die den dritten Platz bei den kaiserlichen Chin-shih erreichten. In Schulbüchern hatte ich Abbildungen des Silberdiploms gesehen, das für den zweiten Platz verliehen wurde, doch ich hätte mir nie träumen lassen, die Ehre zu haben, jemals die Blume zu sehen. Die echte Blume, nicht nur eine Abbildung. Da hing sie unbeachtet an einem Pfosten dicht vor meinen Augen. Ehrfurchtsvoll blies ich den Staub von dieser höchsten Auszeichnung und las, daß einem gewissen Li Kao vor achtundsiebzig Jahren der erste Platz unter allen Gelehrten Chinas zuerkannt worden war und er eine feste Anstellung als Gelehrter an der Kulturwald-Akademie erhalten hatte. Ich riß mich von dem Bild der Rose los und betrachtete staunend den alten Herrn auf der Matratze. Konnte er der große Li Kao sein, vor dessen Verstand sich das ganze Reich verneigt hatte? Den man in den höchsten Rang eines Mandarins erhoben hatte und dessen bedeutender Kopf jetzt betrunkenen Fliegen als Kissen diente? Starr vor Staunen stand ich da, während die Falten begannen, sich wie die Wellen eines grauen sturmgepeitschten Meeres zu heben und zu senken. Zwei rotgeränderte Augen tauchten auf, und eine lange, fleckige Zunge fuhr vorsichtig über die aufgesprungenen Lippen. »Wein!« stöhnte er.
    Ich suchte nach einem heilen Krug, doch es gab keinen. »Ehrwürdiger Herr, ich fürchte, es ist kein Wein da«, sagte ich höflich. Seine Augen verdrehten sich und wanderten langsam zu einer schäbigen Börse, die in einer Weinlache lag. »Geld!« krächzte er. Ich hob die Börse hoch und öffnete sie. »Ehrwürdiger Herr, ich fürchte, es ist auch kein Geld mehr da«, sagte ich. Er verdrehte die Augen, bis nur noch das Weiße zu sehen war, und ich beschloß, das Thema zu wechseln.
    »Habe ich die Ehre, mit dem großen Li Kao zu sprechen, dem größten Gelehrten Chinas? Ich habe ein Problem, das ich einem solchen weisen Mann unterbreiten möchte, doch ich kann nicht mehr als fünftausend in Kupfer bezahlen«, sagte ich traurig. Eine klauenartige Hand tauchte aus dem Ärmel seines Gewandes auf.

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