Meister Li 01 - Die Brücke der Vögel
zu heben. Schräge Sonnenstrahlen fielen durch silberne Regentropfen, und leichter Nebel trieb wie Rauch über die Felder. In der Ferne sah ich die dunstigen Umrisse des Drachenkissens; am Flußufer in der Nähe neckten ein paar Jungen Fangs Reh, die auf einem Wasserbüffel ritt. Die Jungen folgten ihr vermutlich, weil sich unter ihrem nassen Kleid zwei kleine, wohlgeformte Brüste abzeichneten, die das Mädchen vor einem Monat noch nicht gehabt hatte. Reh sonnte sich in der Aufmerksamkeit. Im Kloster auf dem Hügel läuteten die Glocken.
Ich rekelte mich im Bett, sog genußvoll den Duft von Tee und Grütze ein, der aus Tante Huas Küche drang. Aber plötzlich sprang ich auf. Am Flußufer starrten die Jungens mit aufgerissenen Augen Fangs Reh an, die leichenblaß geworden war. Sie griff sich an den Hals, stieß einen durchdringenden Schmerzensschrei aus und stürzte vom Wasserbüffel und fiel ins Gras.
Wie ein Blitz war ich draußen. Rehs Augen standen weit offen und starrten ins Leere. Sie sah mich nicht, als ich ihren Puls fühlte, der nur schwach und unregelmäßig schlug. Schweißtropfen glitzerten auf ihrer Stirn. Ich trug den Jungen auf, ihren Vater zu suchen, nahm Reh auf die Arme und rannte den Hügel hinauf zum Kloster.
Der Abt war auch unser Arzt. Er hatte an der Hanlin-Universität studiert, doch Rehs Krankheit verwirrte ihn sichtlich. Sie schien kaum noch am Leben zu sein; er mußte einen Spiegel an ihre Lippen halten, um sich davon zu überzeugen, daß er beschlug. Und als er sie an verschiedenen schmerzempfindlichen Punkten mit einer Nadel stach, reagierte sie nicht. Ihre Augen standen immer noch weit offen und starrten ins Leere.
Plötzlich richtete sich das hübsche Mädchen auf und schrie. In der Stille des Klosters klang der Schrei erschreckend. Es schlug mit den Händen ziellos in die Luft und schien etwas Unsichtbares abzuwehren, dann begann es krampfhaft zu zucken. Reh fiel auf das Bett zurück, und ihre Augen schlössen sich. Ihr Körper wurde schlaff, und wieder gab sie kaum noch ein Lebenszeichen von sich. »Dämonen!« flüsterte ich.
»Ich hoffe es sehr«, sagte der Abt grimmig. Später erfuhr ich, daß er geglaubt hatte, es handle sich um Tollwut, und lieber wollte er es mit den gefährlichsten Dämonen aus den tiefsten Abgründen der Hölle aufnehmen.
Aus dem Dorf am Fuß des Hügels drangen plötzlich Stimmengewirr und immer lauter werdender Lärm zu uns herauf. Wir hörten das Fluchen von Männern und das Jammern und Wehklagen von Frauen. Der Abt sah mich an und hob eine Augenbraue. Ich stürzte aus der Tür und war wie der Blitz unten im Tal. Dann ging alles durcheinander, und heute fällt es mir schwer, mich in allen Einzelheiten an die Ereignisse zu erinnern.
Es begann mit Tante Hua. Sie hütete das Feuer unter dem Seidenraupengestell in ihrem Haus, als sie etwas Merkwürdiges roch. Durch eine Spalte im Wandschirm spähte sie vorsichtig auf die Raupen, doch sie sah kein schneeweißes Feld, sondern eine schwarze schleimige Masse. Ihre verzweifelten Klagen riefen die Nachbarn auf den Plan, die sich von Tante Huas Unglück überzeugten und sofort in ihre Häuser zurückrannten. Als aus allen Ecken lautes Wehgeschrei ertönte, war klar, daß wir zum ersten Mal seit Menschengedenken keine Seide ernten würden. Und das war erst der Anfang! Großer Hong, unser Schmied, stürzte mit schreckgeweiteten Augen aus dem Haus und trug seinen kleinen Sohn auf den Armen. Die Augen von Kleiner Hong standen weit offen und starrten ins Leere; er schrie und schlug in die Luft. Dem Schmied folgte Wang, der Weinverkäufer, dessen kleine Tochter schrie und in die Luft schlug. Immer mehr Eltern kamen mit ihren Kindern auf den Armen aus den Häusern gerannt, und eine verzweifelte, aufgeregte Menge lief den Hügel hinauf zum Kloster.
Es handelte sich nicht um Tollwut. Es war eine Seuche! Ich starrte ungläubig zwei zierliche Mädchen an, die mit den Daumen im Mund in einer offenen Tür standen. Mutter Hos Urenkel waren so schwächlich, daß der Abt Tag und Nacht um ihr Überleben gekämpft hatte, und doch schien die Seuche ihnen nicht das geringste anhaben zu können. Ich lief an ihnen vorbei ins Haus. Mutter Ho war zweiundneunzig, und es ging mit ihr bergab. Mir klopfte das Herz im Hals, als ich mich ihrem Bett näherte und die Decken zurückschlug. Ich erhielt eine schallende Ohrfeige. »Was glaubst du denn, wer du bist? Der kaiserliche Schwanz?« schrie die alte Dame empört.
(Sie meinte den Kaiser
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