Meistererzählungen
ver gessen. Nun drangen sie von allen Seiten her, wie Vögel, wenn man im Winter Körner wirft, alle zugleich, ein ganzes Gewölk.
Es fi el mir der glänzende Herbsttag wieder ein, an dem des Dachtelbauers Turmfalk aus der Remise durchgegangen war. Der beschnittene Flügel war ihm gewachsen, das mes singene Fußkettlein hatte er durch-gerieben und den engen fi nsteren Schuppen verlassen.
Jetzt saß er dem Haus gegen über ruhig auf einem Apfel-baum, und wohl ein Dutzend Leute stand auf der Straße davor, schaute hinauf und redete und machte Vorschlä-
ge. Da war uns Buben sonderbar be klommen zumute, dem Brosi und mir, wie wir mit allen ande ren Leuten dastanden und den Vogel anschauten, der still im Baume saß und scharf und kühn herabäugte. »Der kommt nicht wieder«, rief einer. Aber der Knecht Gottlob sagte:
»Fliegen wann er noch könnt, dann wär er schon lang über Berg und Tal.« Der Falk probierte, ohne den Ast mit den Krallen loszulassen, mehrmals seine großen Flügel; wir wa ren schrecklich aufgeregt, und ich wußte selber nicht, was mich mehr freuen würde, wenn man ihn fi nge oder wenn er davonkäme. Schließlich wurde vom Gottlob eine Leiter an
gelegt, der Dachtelbauer
stieg selber hinauf und streckte die Hand nach seinem Falken aus. Da ließ der Vogel den Ast fahren und fi ng an, stark mit den Flügeln zu fl attern. Da schlug uns Knaben das Herz so laut, daß wir kaum atmen konnten; wir starrten bezaubert auf den schönen, fl ügel schlagenden 19
Vogel, und dann kam der herrliche Augenblick, daß der Falke ein paar große Stöße tat, und wie er sah, daß er noch fl iegen konnte, stieg er langsam und stolz in gro-
ßen Kreisen höher und höher in die Luft, bis er so klein wie eine Feldlerche war und still im fl immernden Himmel ver schwand. Wir aber, als die Leute schon lang ver-laufen waren, standen noch immer da, hatten die Köpfe nach oben ge streckt und suchten den ganzen Himmel ab, und da tat der Brosi plötzlich einen hohen Freuden-satz in die Luft und schrie dem Vogel nach: »Flieg du, fl ieg du, jetzt bist du wie der frei.«
Auch an den Karrenschuppen des Nachbars muß-
te ich denken. In dem hockten wir, wenn es so recht herunterreg nete, im Halbdunkel beisammengekauert, hörten dem Klin gen und Tosen des Platzregens zu und betrachteten den Hofboden, wo Bäche, Ströme und Seen entstanden und sich ergossen und durchkreuzten und veränderten. Und einmal, als wir so hockten und lauschten, fi ng der Brosi an und sagte: »Du, jetzt kommt die Sündfl ut, was machen wir jetzt? Also alle Dörfer sind schon ertrunken, das Wasser geht jetzt schon bis an den Wald.« Da dachten wir uns alles aus, späh ten im Hof umher, horchten auf den schüttenden Regen und ver-nahmen darin das Brausen ferner Wogen und Meeresströmungen. Ich sagte, wir müßten ein Floß aus vier oder fünf Balken machen, das würde uns zwei schon tragen. Da schrie mich der Brosi aber an: »So, und dein Vater und die Mutter, und mein Vater und meine Mutter, 20
und die Katz und dein Kleiner? Die nimmst nicht mit?«
Daran hatte ich in der Aufregung und Gefahr freilich nicht gedacht, und ich log zur Entschuldigung: »Ja, ich hab mir gedacht, die seien alle schon untergegangen.«
Er aber wurde nachdenklich und traurig, weil er sich das deutlich vorstellte, und dann sagte er: »Wir spielen jetzt was anderes.«
Und damals, als sein armer Rabe noch am Leben war und überall herumhüpfte, hatten wir ihn einmal in unser Garten haus mitgenommen, wo er auf den Querbalken gesetzt wurde und hin und her lief, weil er nicht her-unterkonnte. Ich streckte ihm den Zeigefi nger hin und sagte im Spaß: »Da, Ja kob, beiß!« Da hackte er mich in den Finger. Es tat nicht be sonders weh, aber ich war zornig geworden und schlug nach ihm und wollte ihn strafen. Der Brosi packte mich aber um den Leib und hielt mich fest, bis der Vogel, der in der Angst vom Balken heruntergefl ügelt war, sich hinausgerettet hatte. »Laß mich los«, schrie ich, »er hat mich gebissen«, und rang mitihm. »Du hast selber zu ihm gesagt: Jakob beiß!« rief der Brosi und erklärte mir deutlich, der Vogel sei ganz in seinem Recht gewesen. Ich war ärgerlich über seine Schulmeisterei, sagte ›meinetwegen‹ und beschloß aber im stillen, mich ein anderes Mal an dem Raben zu rä-
chen.
Nachher, als Brosi schon aus dem Garten und halb-wegs daheim war, rief er mir noch einmal und kehrte um, und ich wartete auf ihn. Er kam her und sagte: »Du, 21
gelt, du ver
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