MERS
Aquarien gerade unten an der Straße gegangen. Anschließend kehrten sie im letzten Tageslicht zur Kaserne zurück, wobei sie den schlechten Zustand des Fußballs und die Chancen der Sozialisten bei der nächsten Wahl besprachen. Daniel bekam kein Abendessen, weil er als abwesend gemeldet war. Er organisierte sich etwas geräucherten Schinken und Brot aus der Küche, nachdem er Sergeant Breitholmer an der Sergeanten-Messe verlassen hatte. Der Sergeant erwähnte mit keinem Wort ein Mädchen, mit dem Daniel vielleicht zusammengewesen war. In der nächsten oder in den nächsten beiden Wochen wurde der Mord in der Presse groß aufgemacht, aber Daniel hielt den Kopf unten, und Sergeant Breitholmer sagte kein Sterbenswörtchen.
Sie wurden Freunde.
Der Bevölkerungsrückgang
Jahr 40: Anfang November
7
Der erste Tag des neuen Monats war ein Montag. Eismonat nannten wir ihn. Die Kälte hatte noch nicht eingesetzt, als ich am Morgen erwachte, aber das milde Wetter war bereits von einem stürmischen Ostwind fortgepeitscht worden, der schäbige, windzerzauste Wolken mit sich führte. Und nach dem Aufstehen wurde ich in Marks Arbeitszimmer von einem schrecklichen Sturzbach aus der PIPS-Einheit begrüßt.
In jenen Tagen war ich online mit dem örtlichen Professional Information Print-out Service – jeder in meiner Position mußte das sein –, und zweimal pro Woche spuckten sie den angesammelten technischen Müll in mein Heim. Es ersparte mir das Durchackern der medizinischen Zeitschriften.
Ich pflanzte mich auf Marks Schreibtisch. Die übliche Menge an ernstzunehmenden Forschungsdaten schob ich erst einmal beiseite. Darüber hinaus gab es Geschichten über den sozial bedingten Einfluß des Syndroms und das übliche Dutzend anekdotenhafter Behauptungen von einer Heilung des Syndroms – angefangen bei einem Fernseh-Schamanen der Inuit, der die Hilfe des Großen Weißen Geistes versprach, bis hin zu einem Mailänder Anbieter, der lebensfähige männliche Föten durch seine geheime gesunde Lebensweise garantierte, die aus einer Diät und sexuellen New-Age-Praktiken bestand. Einzelheiten wurden gegen einen Betrag von 25.000,- Euros in einem gesicherten Ausdruck zugesandt.
Die Zahl der Schwindeleien war grenzenlos: einfache Leute, die mit weiblichen Kindern, denen man grob männliche Genitalen aus Kunststoff eingepflanzt hatte, genauso hinters Licht geführt wurden, wie intelligente Angehörige der oberen Zehntausend, die von stinkvornehmen hydropatischen kommerziellen Kurzentren mit kostspieligen Schimpansendrüsen-Therapien übers Ohr gehauen wurden. Gaianer sprachen davon, das natürliche Gleichgewicht der Welt wiederherzustellen, und eine indische Sekte opferte bei Vollmond Jungfrauen in der Hoffnung, Shiva zu beschwichtigen.
An jenem Montagmorgen gab es eine Nachricht, die mich ein wenig aufhorchen ließ: ein Bericht der United Press über eine spontane Remission in einem Bürgerkriegsgebiet in Nordafrika – drei männliche Babies, geboren bei einem Beduinenstamm irgendwo zwischen Murzuq und Al Qatrun, dort, wo einmal Libyen gewesen war. Der unbestätigte Bericht stammte von einer Rotes-Kreuz-Mitarbeiterin, und der Stamm war zur Zeit, da sie in dieses Gebiet zurückkehrte, weitergezogen, aber für sie gab es offenbar weder ein kommerzielles noch ein politisches Interesse daran zu schwindeln. Persönliche Gründe waren eine andere Sache: Frauen tendierten dazu, männliche Babies zu sehen, und zwar einfach deshalb, weil sie es unbedingt wollten. Eine Stoffalte, eine angeborene Deformation, die Schatten der elterlichen Finger, auf die Rückseite des Zelts geworfen, vieles konnte als Penis und Hoden interpretiert werden, wenn das Bedürfnis danach groß genug war.
Nachdem ich den Müll weggeworfen und den UP-Bericht zum späteren Nachschlagen liegengelassen hatte, wanderte ich mit den seriösen veröffentlichten Forschungsdaten durch die Küche. Mark und Anna frühstückten. Yvette las einen langen Brief auf Französisch von ihrer Mutter: sie war ein Klon-Kind gewesen, und beide standen einander sehr nahe. Ehe sie ihn nicht zu Ende gelesen hatte, konnten wir unsere übliche wöchentliche Planungssitzung nicht abhalten, also schenkte ich mir Kaffee ein und durchblätterte die Ausdrucke. Ich stieß auf eine erschreckende Arbeit aus Südafrika. Es ging um männliche Genitaltransplantate, die anscheinend von ihren weiblichen Empfängern nicht abgestoßen wurden, was eine neue Industrie nahelegte: ältere Männer, die gewillt
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