Messertänzerin
Einen Gedanken lang glaubte sie selbst, sie hätte ihr Ziel zum ersten Mal verfehlt. Aber als Tajan vor ihr stand und zögernd die Lanze hob, wurde ihr bewusst, dass das nicht stimmte. Sie hätte es wissen müssen: Sie konnte jedes Ziel treffen. Aber sie war keine Mörderin.
Wofür Tajan sie auch immer gehalten hatte, als er sie in der Schule verhaften lassen wollte – wenn er glaubte, eine Tassari wäre zu allem fähig, dann hatte er sich geirrt! Aus Wut und Verzweiflung nahm sie ihre Maske ab, setzte sich Tajans Lanze an die Kehle und sagte: »Jetzt musst du mich töten.«
Es war ein Angriff gegen ihn. Aus dieser Situation kam er nicht mehr heraus! Sollte er doch spüren, wie es war, unrecht zu haben. Und wie es war, ein Mörder zu sein!
Diesen Gedanken konnte sie kaum zu Ende denken, als plötzlich unter dem Podest der Bühne zwei Schatten herausschossen. Es waren zwei riesige Hunde, die sich knurrend auf Tajan und eine weitere Wache stürzten, während gleichzeitig zwei Hände Divya von der Bühne herunter undunter den Stoff der Bühnenabdeckung zerrten. Zuerst sah Divya unter dem Podest nur Dunkelheit, dann Rocs helles Gesicht, dann bemerkte sie eine Klappe im Boden.
Ohne nachzudenken, sprang sie hinunter, es war nicht so tief, wie sie gedacht hatte. Der Kellerraum war gerade mal mannshoch und wurde schwach von einer Fackel erleuchtet. Roc folgte ihr hastig, schlug die Klappe zu und schob einen eisernen Riegel vor.
»Komm!«, rief er ungeduldig und rannte voraus, quer durch ein Gewirr von Gängen, die sie bald zu einer schmalen Treppe und einer Tür nach draußen führten.
»Beeil dich, sie werden gleich wissen, welchen Ausgang wir nehmen!«, drängte Roc und schob sie auf einen Rappen zu, der unruhig tänzelnd auf sie wartete. Roc löste die Zügel von einem Pfosten, sprang hinauf und reichte Divya seine Hand. Ohne zu zögern, ließ sie sich von Roc hinaufziehen und schlang die Arme um seine Taille, als das Tier auch schon lospreschte.
Mit einer Mischung aus Angst und Erleichterung drehte sie sich im Sattel noch einmal um. Auf einem Balkon bemerkte sie eine Person in einem weiten blauen Kleid. Jolissas Gesichtsausdruck konnte sie allerdings nicht erkennen.
Trommelnder Hufschlag ertönte nun aus der Richtung des Haupteingangs. Zehn bis zwanzig Pferde, schätzte Divya, und sie konnte nur hoffen, dass dieser Rappe wirklich so schnell war, wie seine innere Unruhe es vermuten ließ.
Im Galopp trug sie das Pferd durch die Straßen, die in dieser Richtung immer dunkler wurden, und Divya musste sich gut festhalten, um nicht herunterzufallen. Dennochnäherte sich der Hufschlag erschreckend schnell, und er schien nicht nur von hinten, sondern auch links und rechts aus den Seitengassen zu kommen. Die Wachen schnitten ihnen die Auswege ab! Sie wollten, dass sie geradeaus ritten!
»Wohin geht es geradeaus?«, rief sie Roc ins Ohr, während er das Pferd weiter anspornte.
»Zum Großen Platz. Zum Hauptquartier der Stadtwache.«
Seine Stimme klang erstaunlich ruhig, fand sie, während sie selbst die Panik im Hals spürte. Die Hauswände schienen das donnernde Echo vieler Hufe weiterzutragen. Ein schnelles Pferd war sicher eine gute Idee gewesen, aber gegen so viele Verfolger hatten sie keine Chance!
Auf einmal zügelte Roc das Pferd, warf sein rechtes Bein über den Kopf des Tieres zur Seite, und als er auf dem Boden stand, zerrte er Divya vom Pferd. Gleich darauf schlug er dem Tier aufs Hinterteil und stieß einen schrillen Pfiff aus. Während das Pferd die Straße entlangpreschte, dirigierte Roc Divya in eine schmale Gasse, öffnete eine Tür und schob sie beide hinein. Von innen gegen das Holz gelehnt, atmete er tief durch.
»So weit, so gut!«
Das Mondlicht schien durch die Fenster, und Divya bemerkte die Blässe um seine Nase. Sie begriff, dass seine Ruhe Schauspielerei gewesen war. Deshalb hatten sie ihn vermutlich als Sekretär des Fürsten ausgewählt! Er konnte sein, wer er sein wollte. Und vorspielen, was er wollte.
»Ihr habt mir noch nicht verraten, wie Jolissa reagiert hat, als sie erfuhr, dass Ihr nicht ihr Bräutigam seid«, sagte Divya plötzlich unverblümt.
Erstaunt sah Roc sie an. »Wir müssen weiter. Reden können wir später.«
»Wenn Ihr Zeit habt zum Luftholen, habt Ihr auch Zeit für eine Antwort.«
Er warf einen gehetzten Blick ins Innere des Hauses, griff nach einer Lampe und entzündete sie. »Ich war nicht dabei. Maita hat es ihr wohl gestern Abend gesagt, kurz vor dem Tanz der
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