Metamorphose am Rande des Himmels: Roman (German Edition)
hinführt?«, fragt Pauline, meine resolute Krankenschwester, und feuert mit ihrer Spritze ein paar Tropfen ab.
»Keine Ahnung. Wohin denn?«, frage ich mit Unschuldsmiene.
»Zu Ihrem Zimmer! So kann das nicht weitergehen. Ich werde mit Frau Doktor Cuervo sprechen müssen. In Ihrem Alter spielt man nicht mehr Hänsel und Gretel.«
Im Grundschullehrerton spult die Krankenschwester ihre Moralpredigt ab und wischt den Blutstropfen weg, der in meiner Armbeuge perlt. Vielleicht fürchtet sie, dass die attraktive Ärztin sie ausschimpft. Mein Leben lang war ich auf der Flucht vor der Engstirnigkeit, und jetzt bin ich ihr hilflos ausgeliefert: Die Weißkittelklone schalten und walten in meinem Zimmer, wie es ihnen gefällt. Ist das die Strafe dafür, dass ich meine Gesundheit leichtsinnig aufs Spiel gesetzt habe? Dafür, dass ich vergeblich versucht habe , mir Flügel wachsen zu lassen und wenigstens einmal weiter zu fliegen als ein Papierflugzeug?
Eine halbe Stunde später beginnt die Spritze zu wirken, meine Nerven entkrampfen sich, und die Augen lassen die Rollläden herunter. Die Verwandlung Mensch-zu-Krankenhausroboter geht ziemlich schnell. Als Erstes verändert sich dein Gang, er wird langsam und schleppend, woran der Schlafanzug und der Tropf schuld sind. Dann verschlingt dich das Bett wie eine fleischfressende Pflanze. Bald vergisst du die Sonne und den Wind, und in deinem Kopf beginnt es zu regnen. Du verlernst zu lachen und zu laufen. Und wenn du zu träumen versuchst, kommen dir der Schmerz und seine Medikamenteneskorte in die Quere.
Aber am schlimmsten ist es, mitten am Tag auf einem Friedhof für Lebende aufzuwachen. Niemand liest ein Buch, alle sitzen gähnend vor dem Fernseher. Die Minuten ziehen sich unerträglich in die Länge, bis jede eine ganze Stunde dauert. Die Zeit ist schlaff wie Dalís Uhren. Mein Zimmer wird von einem riesigen Schraubstock zusammengepresst, die Wände rücken jeden Tag ein Stück näher. Injektionsnadeln stoßen durch die Decke und spritzen mir Betäubungsmittel in die Augen. Ich ertrinke in meinem Laken. Werde zu einer Sirene im Schlafanzug. Einer Sirene, die nicht mal schwimmen kann.
auline, der Drache vom Dienst, serviert mir das Essen und die Lokalzeitung. In der Rubrik »Vermischtes« entdecke ich folgende Notiz:
FÄLLT DER VORHANG FÜR TOM CLOUDMAN?
Tom »Häma-Tom« Cloudman hat seinen womöglich letzten Stunt hingelegt. Der Spezialist für Missgeschicke wird von der Polizei gesucht, nachdem er mit seinem rollenden Sarg mehrere Gartenzäune beschädigt und ein Schaufenster zertrümmert hat. Seither ist er untergetaucht, die Überreste seines Gefährts wurden in einem Graben gefunden. Während manche Quellen berichten, Cloudman liege nach einem schweren Unfall im Krankenhaus, spekulieren andere, er habe den Unfall nur vorgetäuscht, um sich ins Ausland abzusetzen. Cloudman trug bei seinen Vorführungen stets eine Maske und hat seine wahre Identität nie enthüllt. Niemand weiß mit Sicherheit, wo sich der schlechteste Stuntman aller Zeiten derzeit aufhält.
»Sind Sie nicht dieser Tom Cloudman?«, fragt meine Krankenschwester.
»Ja.«
»Dann haben wir ja einen Star auf der Station! Ab jetzt verlange ich von den Besuchern Eintritt«, sagt sie mit der übertriebenen Freundlichkeit einer alten Nachbarin, die stundenlang übers Wetter reden will.
Ich kann gut darauf verzichten, dass die Leute mich im Schlafanzug sehen. Ich muss unbedingt meine Flügel weiter befiedern.
Außerdem muss ich meine Diebstahltechnik verfeinern, ich verliere unterwegs zu viele Federn. Von nun an nehme ich leere Kopfkissenbezüge mit auf die Jagd und stopfe sie voll. Ich lerne, auf Samtpfoten über den Flur zu schleichen. Ich weiß jetzt genau, welche Türen quietschen und welche Patienten einen leichten Schlaf haben. Das hindert mich allerdings nicht daran, hin und wieder gegen einen Fernseher zu laufen oder einen Tropf umzustoßen. Nach der Rückkehr in mein Zimmer klebe ich jede einzelne Feder sorgfältig mit einem Pflaster am Metallgestell fest. Bald werden meine Flügel wie echte Flügel aussehen. Dann kann ich endlich diesem Victor einen Besuch abstatten.
Als ich eines Morgens in mein Gefängnis zurückkehre, liegen zwei nagelneue Kopfkissen auf meinem Bett. Sie sind groß und weich und prall gefüllt, durch den Bezug schimmern rote Federn. Ich bette meinen Kopf so behutsam darauf, als wäre er ein rohes Ei. Dann schmiege ich mich fest in meine eigenen Arme und grüble darüber nach,
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