Metamorphose am Rande des Himmels: Roman (German Edition)
den Kopf, dann ein zweites, und mein Gehirn explodiert lautlos.
Die Krankenschwester, die mich zum Röntgen begleitet, wagt nicht, die Flugzeuge herauszuziehen, da ich sonst zu viel Blut verlieren würde. Auf dem Flur starrt man mir nach, ich bin ein wandelnder Twin Tower. Auf einem Rollwagen steht eine Flasche mit neunzigprozentigem Alkohol, und ich würde sie am liebsten in einem Zug leeren. Schwindel brennt mir in den Augen.
Wie gern würde ich mich Hals über Kopf in den Himmel stürzen, wie damals als Kind! Sobald die Langeweile den Kopf zur Tür hereinsteckte wie eine runzlige Alte, die tagein tagaus Sudokus löst, wurden meine Arme zu Windmühlenflügeln.
Jetzt würde ich alles dafür geben, die Flucht ergreifen zu können, ganz gleich, wie viele Knochen ich mir dabei breche. E. T., ich kann gut verstehen, warum du auf deinem Fahrrad über den Himmel geradelt bist. An deiner Stelle wäre ich bis zum Pluto weitergefahren, ohne mich umzudrehen.
echs Uhr morgens. Der Lichtschalterdirigent lässt die Neonröhren explodieren, das Krankenhaus flammt auf wie eine elektrische Sonne. Es folgt die Parade der Weißen Kittel und Plastiksandalen, wie Ginger Rogers steppen sie durch die Zimmer. Sie wecken uns früh am Morgen, um uns daran zu erinnern, warum wir im Bett bleiben müssen. Die Bewegungslosigkeit versetzt mich in Panik. Ich muss fliehen, solange ich noch kann. Rennen, fallen, wieder aufstehen. Wenn ich es langsamer angehen lasse, ersticke ich. Ich brauche eine Dosis Himmel, ich kann nicht richtig atmen, wenn ich nicht etwas frischen Wind in die Lungen bekomme. Aber hier lassen sich nicht mal die Fenster öffnen, das ist nicht vorgesehen. Selbst das Tageslicht ist es leid, durch die Scheiben zu dringen. Aus dem Fernseher im Flur dröhnt Lachen aus der Konserve. Mir ist zum Heulen zumute. Wir könnten einen Wettbewerb im Fernseherweitwurf veranstalten. Dann hätten wir wenigstens etwas zu tun. Ich kann nicht den ganzen Tag im Schlafanzug eines Todeskandidaten herumliegen. Das Heftpflaster, mit dem die Schläuche an meinem Arm fixiert sind, ziept bei jeder Bewegung, damit ich mich auch ja nicht rühre. Ich habe Angst, ein weiches Gefühl, das mir das Hirn verklebt. Dabei kannte ich bei meinen Stunts keine Angst. Am liebsten würde ich die Augen schließen und Winterschlaf halten, bis ich wieder gesund bin. Dieser Gedanke wärmt mich ein paar Sekunden lang. Dann kehrt die Wirklichkeit mit voller Wucht zurück.
Ich sitze hier fest. Auch wenn ich krampfhaft versuche, mich vom Gegenteil zu überzeugen, ahne ich, dass ich nicht mehr aus dem Krankenhaus herauskomme. Wenn die Michel Platinis zu meiner Befreiung kämen, hätte ich gar nicht die Kraft, ihnen zu folgen. Die Rote Bete, die in mir wuchert, ist zu schwer. Wenn ich weiter durch die Lande ziehe und mich nicht behandeln lasse, wird sie mich in kürzester Zeit töten. Aber wenn ich hierbleibe, drehe ich durch. Mein Kopf leert sich. Mein Gehirn packt Kartons, als wollte es umziehen. Nachmittags gehe ich manchmal im Park spazieren, umarme die Bäume und versuche, ein paar Seiten zu lesen. Ich will mich ablenken, aber die Rote Bete hat ein Absperrband um meine Träume gezogen wie ein Polizist um einen Tatort: Betreten verboten.
»Wie geht es Ihnen heute, Mister Cloudman?«, fragt meine Ärztin. Die Kugelschreiber in ihrer Brusttasche stehen stramm.
»Nicht so besonders.«
»Sie dürfen den Mut nicht verlieren. Wenn man voller Zuversicht ist, bekämpft der Körper die Krankheit viel besser. Ach ja, wissen Sie eigentlich, dass einer Ihrer größten Fans auf unserer Station liegt?«
»Ein Fan?«
»Ja. Er heißt Victor und ist acht Jahre alt. Sie sind vor einer Weile in seinem Dorf aufgetreten. Er hat Sie gestern im Park gesehen und wiedererkannt.«
»Warum ist er hier?«
»Leukämie.«
Übergangslos legt sie mir ihren Schlachtplan zur Bekämpfung der Roten Bete dar. Ich höre nur mit halbem Ohr hin und blicke ihr nach, als sie davoneilt, um ihre Visite fortzusetzen.
Wenn ich mit acht Jahren erfahren hätte, dass ich den Rest meines kurzen Lebens im Krankenhaus verbringen muss, wäre ich auf der Stelle tot umgefallen. Ich habe mir in meinem Leben wenigstens schon viele Sonnenbrände geholt und meine Träume konnten an der frischen Luft heranwachsen. Victors gedeihen im Neonlicht.
Mittlerweile weiß ich, wie schnell die Rote Bete Träume in einen entlegenen Winkel des Gehirns verbannt. Wenn ich nichts unternehme, frisst sie mich auf! Meine Entscheidung steht
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