Metamorphose am Rande des Himmels: Roman (German Edition)
ch heiße Tom »Häma-Tom« Cloudman. Man sagt, ich sei der schlechteste Stuntman aller Zeiten. Ganz falsch ist das nicht. Ich bin außergewöhnlich ungeschickt und laufe ständig überall gegen. Ich beneide die Vögel um ihre Freiheit, vielleicht schaue ich zu oft zu ihnen hoch. Schon damals auf dem Schulhof zog ich Rollschuhe an, um fliegen zu üben und den unerreichbaren Miniaturfrauen einen Kuss zu entlocken. Aber ich flog nicht hoch, sondern immer nur auf die Nase. Allerdings überkam mich beim kleinsten Anzeichen, dass sich ein Publikum für meine Darbietung interessierte, ein ebenso albernes wie grandioses Gefühl der Unbesiegbarkeit. Ich wurde regelrecht süchtig danach: Ich raste auf einem alten Skateboard das Schuldach hinunter und wedelte dabei mit Pappflügeln. Ich versuchte, mit dem Fahrrad abzuheben, und garnierte eine Windschutzscheibe mit meinen ausgeschlagenen Zähnen. So ging es immer weiter. Je öfter ich fiel, desto beliebter wurde ich. Die anderen Kinder dachten sich immer neue Herausforderungen aus, um mich fallen zu sehen. Sie lachten über mich. Irgendwann dämmerte mir, dass ich die Mischung aus Lampenfieber und Adrenalin, die das Showbusiness ausmacht, liebte. Wenn ich nach einem Sturz die Augen aufschlug, war ich manchmal von bunten Lackschuhen umringt und Mäusestimmen hauchten: »Zugabe«. Das fand ich unwiderstehlich. Aber das Fallen war nie Selbstzweck. Meine Leidenschaft gilt seit jeher jenem kurzen, unfassbaren Moment davor: dem Moment, in dem ich abhebe.
Der Drang, dem Alltag zu entfliehen, wurde mit den Jahren immer stärker. Mein Verstand reagierte wie ein gefühlsempfindlicher Film, der in derselben Sekunde Liebe und Tod einfängt. Ich entwickelte eine regelrechte Normalitätsphobie. Längere Mahlzeiten, bei denen ich stillsitzen sollte, machten mich nervös. Ständig vergaß ich Telefone, verlor Portemonnaies und zerbrach Bankkarten. Verständlicherweise verzieh man mir dieses kindische Verhalten irgendwann nicht mehr. Ich wurde ein Adrenalinjunkie: Ich kletterte auf einen Baum und sprang nur mit einem Regenschirm bewaffnet in die Tiefe. Ich paddelte in einem löchrigen Schlauchboot einen eiskalten Bergbach hinunter. Ich erklomm den Schornstein des Hauses, in dem ein Mädchen wohnte, für das ich schwärmte. Ließ versehentlich das Silberarmband, das ich mir vom Mund abgespart hatte, in den Kamin fallen. Versuchte es zu fangen, beugte mich zu weit vor und landete rußverschmiert im Wohnzimmer, wo die Familie im trauten Kreis Weihnachten feierte. Ich strebte nach immer neuen Extremen. Höher, schneller, weiter, länger. Ich war ein Kreisel aus Fleisch und Blut, nur in Bewegung geriet ich nicht aus dem Gleichgewicht. Familie und Freunde begannen sich Sorgen um mich zu machen.
Ich gab mir große Mühe, mich anzupassen, flog aber überall im hohen Bogen raus. Selbst aus der Zirkusschule: zu ungeschickt. Zwar begeisterte es die Jury, wie ich beim Trampolinspringen jedesmal auf kunstvolle Weise neben dem Sprungtuch landete, aber man erklärte mir, ein Clown müsse tausendmal hinfallen können, ohne sich zu verletzen – und das gehörte leider nicht zu meinem Repertoire.
Ich musste einen Weg finden, ein nützliches Mitglied der Gesellschaft zu werden und meinen Lebensunterhalt zu verdienen. Warum nicht mit Straßentheater und Bruchlandungen? Geschichten erzählen, Akkordeon spielen, springen, singen, mit etwas Glück fliegen, mit Sicherheit fallen, Kunststücke vorführen. Losziehen. Jetzt gleich.
Kaum war mir der Gedanke gekommen, packte ich auch schon meine Sachen. Ein altes Zelt, einen Schlafsack und unendliche Möglichkeiten in einen zu kleinen Rucksack gestopft, und los ging es. Nie zuvor hatte ich mich so leicht gefühlt.
Ein eiskalter Wind polierte die Weihnachtslichter, die Sterne strahlten heller als sonst. Aus einem Haus wehte mir der Duft frischer Pfannkuchen entgegen. Ich sah mich schon fantastische Länder erkunden, alle Sprachen der Welt lernen und neue erfinden. Aber mein Abenteuer endete, als ich um die nächste Ecke bog und gegen ein besserwisserisches Verkehrsschild knallte. Einbahnstraße. Reise um die Welt in vierundzwanzig Sekunden. Ich vibrierte wie eine Stimmgabel. Ich brauchte dringend ein Bad und mehrere Kopfschmerztabletten. Gehen Sie zurück auf Los.
Dieser missglückte Aufbruch ließ mich meinen halbgaren Fluchtplan überdenken. Ich brauchte einen fahrbaren Untersatz, einen Schutzpanzer gegen die Widrigkeiten des Lebens. Ein Auto war zu gefährlich.
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