Metro2033
aber bald wieder zurück sein. Er schlug vor, auf ihn zu warten. Dann begannen beide detailliert über gewisse Abkommen zu diskutieren, so dass Artjom den Faden verlor. Er saß einfach da, nippte an dem heißen Tee, dessen Pilzduft ihn an seine Heimatstation erinnerte, und sah sich um. Die Kiewskaja hatte offenbar schon bessere Zeiten gesehen: Die Wände des Zimmers waren mit mottenzerfressenen Teppichen verhängt, deren Muster man gerade noch erkennen konnte. Darüber hatte man an einigen Stellen in breiten vergoldeten Rahmen Bleistiftskizzen von Tunnelgabelungen befestigt. Der Tisch, an dem sie saßen, war eine Antiquität. Schwer zu sagen, wie viele Stalker ihn aus irgendeiner verlassenen Wohnung hierher geschleppt haben mussten und wie viel die Herren dieser Station dafür wohl gezahlt hatten. An einer Wand hing ein alter, mit schwarzer Patina überzogener Säbel, daneben ein prähistorisches Exemplar einer Pistole, die sicher nicht mehr als Waffe zu gebrauchen war. Am hinteren Ende des Zimmers leuchtete auf einer hohen Kommode ein riesiger weißer Schädel - Artjom hätte nicht sagen können, von welchem Wesen er stammte.
Arkadi Semjonowitsch schüttelte den Kopf. »Da ist nichts in diesen Tunneln, absolut nichts. Wir haben Wachen aufgestellt, damit die Leute ruhiger schlafen können. Du bist doch selbst dort gewesen und weißt, dass beide Strecken nach etwa dreihundert Metern komplett dicht sind. Da kann nichts durchkommen. Es ist nichts als Aberglaube.«
Melnik runzelte die Stirn. »Und doch verschwinden hier Menschen.«
»Richtig. Nur wissen wir nicht, wohin. Ich denke, es handelt sich dabei um Leute, die fliehen, weil sie Angst haben. Die Ausgänge zu den anderen Stationen sind nicht bewacht« - Arkadi Semjonowitsch deutete mit der Hand auf die Treppe - »und dahinter beginnt eine ganze Stadt. Es gibt genügend Auswahl: Man kommt von hier entweder auf den Ring oder auf die Filjowskaja-Linie. Wie es heißt, ist die Hanse derzeit für Leute von unserer Station offen.«
»Wovor haben sie dann Angst?«
»Wovor wohl?« Arkadi Semjonowitsch breitete die Arme aus. »Davor, dass hier ständig jemand verschwindet. Und schon hast du einen wunderbaren Teufelskreis.«
»Seltsam ... Weißt du was? Während wir auf Tretjak warten, gehen wir mal mit auf Wache. Einfach so, zum Kennenlernen. Die Smolensker machen sich nämlich allmählich Sorgen.«
Der Vorsteher nickte. »Verständlich. In Zelt Nummer drei wohnt Anton. Er ist Leiter der nächsten Schicht. Sag ihm, dass du von mir kommst.«
In dem Zelt mit der aufgemalten 3 war es laut. Auf dem Boden spielten zwei etwa zehnjährige Jungen mit leeren Patronenhülsen. Daneben saß ein kleines Mädchen und sah seinen Brüdern mit großen, neugierigen Augen zu, wagte es aber nicht, sich in das Spiel einzumischen. Eine gepflegt wirkende Frau mittleren Alters mit Schürze schnitt gerade etwas Essbares zurecht. Es herrschte eine behagliche Atmosphäre, die Luft erfüllte ein angenehmer, häuslicher Geruch.
Die Frau lächelte gleichmütig und sagte: »Anton ist nicht da. Nehmt Platz. Ihr könnt hier auf ihn warten.«
Die Jungen starrten die Neuankömmlinge zuerst misstrauisch an, doch dann kam einer der beiden auf Artjom zu und musterte ihn neugierig. »Hast du Hülsen?«, fragte er.
»Oleg, hör sofort auf zu betteln!«, sagte die Frau streng, ohne mit ihrer Beschäftigung aufzuhören.
Zu Artjoms Überraschung steckte Melnik die Hand in die Hosentasche, kramte dort herum und zog ein paar besonders lange Patronenhülsen heraus, die garantiert nicht zu seiner
Kalaschnikow gehörten. Er klimperte damit wie mit einer Rassel, dann hielt er seinen Schatz dem Jungen hin. Dessen Augen leuchteten sogleich vor Begeisterung, doch wagte er es nicht, sie zu berühren.
»Nimm ruhig!« Der Stalker zwinkerte dem Jungen zu und ließ die Hülsen in dessen ausgestreckte Hand fallen.
»So, jetzt gewinne ich!«, rief der Frechdachs begeistert. »Schau mal, wie groß die sind. Das sind die Sondereinsatzkräfte!«
Artjom sah genauer hin. Die Jungen hatten ihre Hülsen in gleichmäßigen Reihen aufgebaut. Offenbar waren es ihre Soldaten. Er musste daran denken, dass er selbst auch einmal solche Spiele gespielt hatte, doch hatte er das Glück gehabt, echte Zinnsoldaten zu besitzen.
Während sich am Boden eine Schlacht ereignete, betrat der Vater der Jungen das Zelt: ein mittelgroßer, schlanker Mann mit spärlichem, hellbraunem Haar. Als er die Fremden erblickte, nickte er ihnen zu, ohne
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