Metropolis brennt
May ihn auf. „Das war sehr interessant.“ Seine Augen suchten die Unterseite des Stahltisches ab.
Reuben vermied den Blick in das vor Entsetzen verzerrte Gesicht, und ein Teil seiner Ehrfurcht schwand. Mit einem General unter einem Tisch! Plötzlich schien das gar nicht mehr so seltsam.
„Vielleicht, Sir, können Sie mir ein verblüffendes Ereignis erklären, das mir heute nachmittag passierte. Ein Freund, Rudolphs Mann Almon vom neunundachtzigsten Stock, gab mir ein Fernglas, das in meinen Augen aufblitzte und dann matt wurde. Gibt es in Ihrer großen Erfahrung …“
May lachte heiser und sagte mit zitternder Stimme: „Ein alter Trick!
Er fotografierte deine Netzhäute wegen des Musters der Blutgefäße. Einer von Rudolphs Männern, ja? Ich bin froh, daß du mit mir darüber gesprochen hast. Ich bin alt genug, um so etwas zu deuten. Vielleicht hat der gute Rudolph vor …“
Sie verspürten ein Beben in der Luft, gefolgt von einem leisen Aufprall. Ein Geschoß hatte den Sperrgürtel durchbrochen und war, dem Geräusch nach zu urteilen, tief unten am Fuß von Denv explodiert.
Wieder ertönten die Alarmsirenen, dieses Mal in kurzen Intervallen, die besagten: Alles klar, nur eine Angriffswelle, und die konnte abgewehrt werden.
Der Atomist und der General kletterten unter dem Tisch hervor. Mays Sekretär platzte zur Tür herein, doch May winkte ihn wieder hinaus. Er stützte sich mit zitternden Armen auf den Tisch. Reuben brachte ihm hastig einen Stuhl.
„Ein Glas Wasser“, sagte May.
Der Atomist brachte es ihm. Der General spülte etwas damit hinunter. Reuben hatte den Eindruck, daß es sich um eine dreifache Dosis XXX handelte – grüne Kapseln, von denen man besser die Finger ließ.
Nach einem Augenblick sagte May: „Schon besser. Und schau mich nicht so schockiert an, junger Mann; du hast ja keine Ahnung von den Belastungen, denen wir unterliegen. Das ist nur eine vorübergehende Maßnahme, die ich mir wieder abgewöhnen werde, wenn sich die Lage gebessert hat. Ich wollte sagen, daß der gute Rudolph möglicherweise vorhat, einen meiner Männer durch einen seiner Leute zu ersetzen. Sag mir, wie lange bist du schon mit diesem Almon befreundet?“
„Ich lernte ihn erst letzte Woche zufällig kennen. Ich hätte erkennen müssen …“
„Das hättest du gewiß. Eine Woche. Zeit genug. Mittlerweile bist du fotografiert worden, und zweifellos hat man auch deine Fingerabdrücke genommen, deine Stimme aufgezeichnet und ohne dein Wissen dein Gebaren festgestellt. Nur das Retinaskop ist schwierig, aber für einen echten Doppelgänger muß man dieses Risiko eingehen. Hast du deinen Mann getötet, Reuben?“
Er nickte. Es war vor zwei Jahren geschehen, ein dummer Streit über die Herrschaft über eine Fabrik. Reuben wurde nicht gerne daran erinnert.
„Gut“, sagte May grimmig. „Üblicherweise wird so etwas folgendermaßen gehandhabt: Dein Doppelgänger tötet dich an einem abgelegenen Ort und schafft deine Leiche beiseite, um dann an deine Stelle zu treten. Wir werden es umkehren. Du wirst den Doppelgänger töten und dann in seine Rolle schlüpfen.“
Die kraftvolle, methodische Stimme entwarf Möglichkeiten und Aussichten, ersann Maßnahmen und Gegenmaßnahmen. Reuben hörte zu und fühlte sich wieder ehrfürchtig. Vielleicht war May gar nicht ängstlich unter dem Tisch gewesen, vielleicht hatte Reuben nur die Widerspiegelung seiner eigenen Furcht im Gesicht des Generals gesehen. Und nun erzählte ihm May sogar etwas von den Hintergründen der Politik. „Weg vom dreiundachtzigsten Stock!“ schwor er bei sich, während die großen Namen genannt wurden.
„Mein guter Freund Rudolph möchte selbstverständlich die fünf Sterne. Du wirst das natürlich nicht wissen, aber der Mann, der augenblicklich die fünf Sterne trägt, ist mittlerweile achtzig Jahre alt, und sein Zustand verschlechtert sich rapide. Ich betrachte mich als möglichen Kandidaten für die Nachfolge. Aber Rudolph ebenfalls, wie es den Anschein hat. Zweifellos plant er eine scheußliche Sache mit deinem Doppelgänger am Wahltag, um mich zu diskreditieren. Wir beide müssen nun folgendes tun …“
Wir beide – May und Mays Mann Reuben vom dreiundachtzigsten Stock! Weg von den kahlen Korridoren und freudlosen Schlafzimmern und hinauf in marmorne Flure und riesige Zimmerfluchten! Von den überfüllten Kantinen in exklusive Restaurants, wo man einen eigenen Tisch und Kellner hatte und leise Musik aus Lautsprechern ertönte. Weg vom
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