Mich hat keiner gefragt - Mich hat keiner gefragt
umbringen. Du wirst schon sehen, dass ich dazu in der Lage bin.« Noch niemals in meinem Leben hatte ich eine solche Macht gespürt. Ich wollte die Sache für mich so oder so abschließen. Vater schwor zwar Rache, aber ich hatte Glück. Ich wurde nur vom Familienclan verstoßen! Das war mein Preis für die Verwirklichung der individuellen Freiheit. Ayşe wurde nach ihrer Scheidung von ihrem eigenen Sohn aufgefordert, sich umzubringen, und sie muss heute damit leben, dass ihre beiden ältesten Söhne den Kontakt mit ihr abgebrochen haben. Doch andere Frauen sind nicht so glimpflich davon gekommen wie Ayşe und ich.
Hatun Sönmez etwa konnte ihrem Schicksal nicht entrinnen. Sie wurde einundzwanzigjährig am 6. September 1993 in der Nähe der S-Bahn-Haltestelle Universität in Dortmund von ihrem siebzehnjährigen Bruder niedergestochen, weil Hatun sich verliebt hatte und mit ihrem Freund Heiratspläne schmiedete. Ha- tun empfand eine tiefe, innere Liebe für Erdal A. und musste – um die dadurch verletzte Familienehre rein zu waschen – dafür mit ihrem Leben bezahlen.
Um das Verhalten unserer Väter und Brüder nachzuvollziehen, muss man einen Blick auf das türkische Ehrverständnis werfen.
Die »Ehre des türkischen Mannes« steht höher als sein Leben, höher auch als das Leben seiner Schwestern, Mütter, Töchter und Frauen. Die Ehre der »Ehrenhüter und Vollstrecker« definiert sich zentral über die sexuelle Reinheit der Frauen in der Familie. Die Frau kann nur Anteil haben an »namus«, der Ehre des Mannes, oder diese verunreinigen, z. B. wenn ihr Name in Verbindung gebracht wird mit schändlichem Benehmen, wenn sie sich gegen die Zwangsehe auflehnt oder durch ihr Auftreten in der Öffentlichkeit, durch ihre Kleidung, durch vorehelichen oder außerehelichen Geschlechtsverkehr Schande über die Familie bringt. Der Verkehr eines Mannes mit Frauen beschmutzt hingegen die Ehre der Familie nicht.
Selbst wenn eine Frau oder ein Mädchen innerhalb der Familie sexuellem Missbrauch ausgesetzt ist, ist das Mädchen oder die Frau schuldig und muss bestraft werden. Die Täter werden jedoch oft nicht geächtet. Eine Frau kann ihre verlorene Ehre auch nicht wiederherstellen, das ist die Aufgabe des Mannes. Die »Ehre des türkischen Mannes« lässt sich indes nicht erwerben, sondern nur verlieren.
Wer die Ehre der Familie nicht verteidigt, der wird in den Augen des Familienclans und der Männer aus der Gemeinde zum »namussuz adam« – »zum ehrlosen Mann« – stigmatisiert, damit verbunden, bedeutet der Verlust der Familienehre für die Betroffenen den sozialen Tod. Immer wieder werden die männlichen Angehörigen von anderen Männern der Gemeinde dazu angehalten, ja regelrecht aufgehetzt, ihre Ehre wiederherzustellen.
Durch solchen Handlungsdruck betrachten sie ihre Schwestern, Mütter, Töchter und Frauen als Gegner, als »Feinde«, die sich gegen die Gesetze des »freien Mannes« unfolgsam verhalten. Sie werden verpflichtet, die traditionelle Praxis aufrechtzuerhalten. Lieber nehmen sie Gefängnisstrafen in Kauf, als mit der befleckten Ehre zu leben. Und jeder Mord ist Warnung für die anderen jungen Mädchen und Frauen. Selbst ein Leben in einem aufgeklärten Staat wie Deutschland hat nichts an der Einhaltung dieser Tradition geändert.
Nachdem ich dem Diktat der Tradition entflohen war, habe ich stets nach Möglichkeiten gesucht, um betroffene Frauen und Mädchen aus türkischen Familien zu erreichen. Frauen und Mädchen, die in ihren eigenen vier Wänden gefangen sind. Frauen und Mädchen, die als Opfer in einem starren Rahmen aus Sünde, Ehre, Schande und Verboten leben.
Einer meiner Wege führte mich zum Schreiben * . Ich spürte, wie meine Seele mit jedem niedergeschriebenen Wort um eine Last erleichtert wurde. Ich schrieb nicht nur für mich, sondern auch für meine Leidensgenossinnen. Um ihnen die Botschaft zu vermitteln, dass es immer Lösungen gibt und wir uns nicht dem Schicksal unterwerfen müssen. Um sie wachzurütteln, um ihnen den Weg zu zeigen durch das mir widerfahrene Unrecht. Denn nur die wenigsten wissen sich zu wehren, nur die wenigsten fordern ihre angeborenen Rechte, und die Mehrheit von ihnen leidet immer noch unter diesen traditionellen Wertvorstellungen.
* Serap Çileli, Wir sind eure Töchter, nicht eure Ehre!, Neutor Verlag, Michelstadt 2002
Und ich habe stets die Frauen unterstützt, die sich durchgerungen haben, über das ihnen zugefügte Leid zu sprechen. So wie es Ayşe
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