Mich hat keiner gefragt - Mich hat keiner gefragt
Vater. Das mit dem Wasser war eine feine Sache, weil wir genug davon hatten. Von den umliegenden Bergen flossen viele Quellen und Bäche hinunter in unser Dorf, und schon vor langer Zeit hatten die Bauern ein ausgeklügeltes Bewässerungssystem erdacht. Da unser Dorf am Hang liegt, sind auch die Felder abschüssig. Und so wird das Wasser in kleinen Bächen an den Feldern entlanggeführt. Will man ein Feld bewässern, wird an dessen Rand ein Loch gegraben, so dass das Wasser ungehindert auf den Acker fließen kann, und zwar so lange,bis alle Pflanzen versorgt sind. Danach wird das Loch wieder verschlossen.
Der Tabakanbau war zwar unsere wichtigste Einnahmequelle, aber wir bauten auch Weizen, Roggen und Mais an. Und dann gab es noch den Garten meiner Mutter. Das waren zwei Felder, eines ganz in der Nähe unseres Hauses, das andere weiter oben am Berg. Dort baute sie unser Gemüse an, Zwiebeln, Paprika, Tomaten, Weißkraut, Gurken und vieles mehr. Auch hier begann ihre Arbeit schon im Februar, März. Auch hier musste sie die Äcker säubern, Steine sammeln, umgraben und die ersten Gemüsesorten anpflanzen. Vater hat ihr dabei nie geholfen, das war Frauenarbeit.
Irgendwann, ich glaube, es war im Herbst 1970, wurde ich eingeschult. Aber mit der Schule stand ich vom ersten Tag an auf Kriegsfuß. Da unser Dorf keine eigene Schule hatte, mussten wir jeden Morgen drei oder vier Kilometer in den Nachbarort laufen. Einen Schulbus gab es damals noch nicht. Wir gingen immer gemeinsam in die Schule, mein Bruder, meine Cousins und Cousinen und ich. Zu fünft oder sechst marschierten wir also los, die enge Straße steil den Berg hinauf. Oben, am Ende des Dorfes, lag unser Friedhof. Dort war es mir immer besonders unheimlich. Ich wollte nicht an die Toten denken, die hier begraben lagen. Wer weiß, vielleicht kamen sie aus ihren Gräbern heraus, um einen von uns zu holen? Ich hatte Angst, also habe ich immer in die andere Richtung geguckt, aber das hat nicht wirklich geholfen. Jedes Mal war ich froh, wenn der Friedhof endlich hinter uns lag. Dann fiel der Weg ab, und wir liefen hinunter ins Tal. Dort lag unsere Schule, ein ziemlich großes, zweistöckiges Gebäude. An die zweihundert Kinder kamen jeden Tag aus zwei verschiedenen Dörfern zum Unterricht.
Unser Schulweg dauerte immer eine gute halbe Stunde, dann waren wir endlich da. Das war besonders im Winter schwierig, weil meistens viel Schnee lag und wir keine richtigen Schuhe hatten. Sommers wie winters sind wir mit Plastikschlappen unterwegsgewesen. Für richtige Schuhe hatten unsere Eltern kein Geld. Kleidung war überhaupt so ein Problem. Meine Schwester und ich trugen immer einen Rock, eine Bluse und darunter eine Pumphose. Den Rock aus einem blumengemusterten Stoff hatte entweder Mutter oder die Großmutter selbst genäht, ebenso wie die Pumphose. Im Winter trugen wir eine selbstgestrickte Jacke und darunter einen dicken Pullover. Aber gefroren habe ich fast immer, vor allem an den Füßen.
Auch in der Schule war es nicht besonders warm. In jedem Klassenzimmer stand zwar ein Ofen, und alle Kinder mussten jeden Tag ein Holzscheit mitbringen. Dieses Holz haben die Lehrer dann den ganzen Tag über verheizt, so dass es in den Klassenzimmern wenigstens ein bisschen warm wurde. Bei uns dauerte die Schule ja von morgens um acht bis nachmittags um vier. Mittags sind wir nie nach Hause gegangen, das wäre viel zu weit gewesen. Im Sommer haben wir unseren mitgebrachten Proviant auf dem Schulhof verspeist, nur im Winter war es anders. Da bekamen wir in der Schule eine warme Mahlzeit. Das war zwar nur Milch und Brot. Aber das mit heißem Wasser aufgerührte Milchpulver hat mir trotzdem immer sehr gut geschmeckt. An diese Schulspeisung erinnere ich mich heute noch gerne.
Insgesamt waren wir dreißig Kinder in meiner Klasse. Eigentlich eine gute Zahl, um dem Unterricht folgen zu können, aber bei mir ist nichts hängen geblieben. Das ist eines der größten Rätsel meines Lebens. Bis heute weiß ich nicht, warum ich in der Schule nichts gelernt habe. Inzwischen kann ich zwar ein bisschen lesen, aber schreiben kann ich außer meinem Namen nichts. Ich glaube nicht, dass ich dümmer als die anderen Kinder war. Nein, meistens hatte ich einfach keine Lust zu denken. Einzige Ausnahme war das Rechnen. Wann immer ich ein Stück Papier und einen Bleistift fand, fing ich sofort an zu rechnen. Das fiel mir auch leichter als Lesen und Schreiben. Da tat ich mich schwer. Aber vielleicht lag es
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