Mich hat keiner gefragt - Mich hat keiner gefragt
Zwei Jahre zuvor hatte meine Mutter einen Sohn zur Welt gebracht, zwei Jahre danach wurde meine kleine Schwester Hanife geboren. Danach kamen keine Kinder mehr, obwohl meine Mutter noch ein paar Mal schwanger war. Aber davon hatte ich – natürlich – nichts mitgekriegt. Diese Geschichten erfuhr ich erst sehr viel später.
Meine Geburt war schwierig gewesen. Tagelang hatte die Mutter Wehen gehabt, und irgendwann befürchtete man das Schlimmste. Drei Frauen standen ihr bei. Sie kochten Wasser ab, brachten saubere Tücher und versuchten, ihr über die ärgsten Schmerzen hinwegzuhelfen. Nein, mein Vater war nicht da. Er war – wie so oft – ins kahve gegangen. Das kahve ist ein Versammlungsort für Männer, wo sie hingehen, Tee oder Kaffee trinken, tavla , also Backgammon, spielen und sich unterhalten. Mein Vater verbrachte viele Stunden in der Woche dort.
Manchmal denke ich, ich wollte nicht in diese Welt. Vielleicht habe ich damals schon geahnt, was mich erwartet. Aber irgendwann – mitten in der Nacht – bin ich dann doch gekommen. Als meine Mutter mich schließlich in den Armen hielt, war sie überglücklich. Ich war ihr Wunschkind gewesen. Bei meinem Vater war das anders. Ich glaube, dass er weder mich noch meinen Bruder geliebt hat. Im Gegenteil, manchmal denke ich, er hat uns gehasst. Erst als meine kleine Schwester zur Welt kam, habe ich erfahren, dass auch mein Vater zu so etwas wie Vaterliebe fähig war. Aber ich habe davon nie etwas abgekriegt. An mir ließ er nur seine Wut aus. Und zornig war mein Vater oft. Wenn er wütend wurde, brüllte er das halbe Dorf zusammen, und dann haute er zu. Zuerst meine Mutter, später auch uns, meinen Bruder und mich. Nur Hanife hat er nie geschlagen. Sie war eben sein Lieblingskind.
»Warum hast du so viele Kinder gekriegt?«, habe ich meine Mutter einmal gefragt. »Weil ich immer gehofft habe, dass es dann besser wird«, hat sie geantwortet. Und das wurde es wohl auch – kurzfristig zumindest. Immer wenn sie ein Kind unter ihrem Herzen trug, schien er etwas milder gestimmt. Er schrie nicht mehr so viel, und auch geschlagen hat er sie nicht. Aber nur bis zur Geburt. Danach ging es weiter wie zuvor. Mit jeder Schwangerschaft hat sie auch ein bisschen Hoffnung verloren.
Ich war ein ruhiges, pflegeleichtes Kind. Im ersten Sommer hat mich meine Mutter mit aufs Feld genommen und mir zwischen den Bäumen eine Schaukel gebaut. So hat sie mich den ganzen Tag bei sich gehabt. Während mein Bruder schon laufen konnte und in ihrer Nähe spielte, habe ich selig in meinem Babysitz geschlummert. Das waren die wenigen Momente des Glücks im Leben meiner Mutter.
Kinder großzuziehen, das war damals schwierig. Die Erwachsenen mussten von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang schwer arbeiten, und zu essen hatten sie immer zu wenig. Lebenserleichternde Mittel wie Babynahrung oder gar Pampers gab es damals natürlich auch nicht. So hatten die Mütter bei uns ein ganz eigenes System der Säuglingshygiene entwickelt: Meine Geschwister und ich wurden als Babys in eine Wiege mit Erde gelegt, ein Tuch drüber und fertig. War das Tuch schmutzig, wurde es gesäubert und gewaschen. Und hin und wieder hat anne , meine Mutter, die Erde ausgetauscht. Gestillt hat sie uns alle, aber nicht besonders lange. Dazu war sie wohl selbst zu schlecht ernährt. Nach der Stillzeit hat sie uns mit Mehlsuppe aufgepäppelt.
Als ich zwei Jahre alt war, bin ich sehr krank geworden. Ich hatte hohes Fieber, war apathisch und habe mich kaum mehr bewegt. Völlig panisch ist meine Mutter damals zu ihrer Schwägerin und Freundin Songül gelaufen. Zu Songül verband sie in jener Zeit eine innige Freundschaft, das sollte sich im Laufe der Jahre ändern, aber das ist eine andere Geschichte. Damals jedenfalls standen sich die beiden Frauen nah, sie waren verschwägertund lebten Tür an Tür. Songül hat also ihren Mann, meinen Onkel, organisiert, der dann die beiden Frauen und mich mit dem Traktor über eine holprige Schotterpiste in die nächste Stadt gefahren hat. Als sie uns schließlich beim Arzt abgesetzt hatten, ist Songül einfach weitergefahren. Wahrscheinlich hat sie gedacht, das werde sowieso nichts mehr mit diesem Kind. Aber da sollte sie sich geirrt haben. Der Arzt untersuchte mich gründlich und fand auch schnell die Ursache, ich hatte eine eitrige Angina und Fieberkrämpfe. Er gab meiner Mutter Medizin und schickte sie wieder nach Hause. Dort erwachten meine Lebensgeister relativ schnell. Als ich nach
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