Dieser Mensch war ich - -: Nachrufe auf das eigene Leben (German Edition)
Kein Sterbenswort
Dies ist kein Buch über das Sterben, sondern ein Buch über das Leben. Das Leben wird hier allerdings von seinem Ende her betrachtet: Es ist eine Betrachtung des Lebens aus der Perspektive des Sterbens.
Diese Perspektive hat mich schon seit meiner Jugend interessiert. Natürlich darf man sich zu ihr im alltäglichen Umfeld nicht so deutlich bekennen, denn vom Ende her zu denken und daraus auch seine Handlungen abzuleiten– das erinnert ja auf unbequeme Weise daran, dass man eines Tages sterben muss. So weit aber wollen die meisten nicht denken. Es ist einfach zu irritierend. Wenn ich zum Beispiel davon erzähle, wie ich wichtige berufliche Entscheidungen treffe, dann finden das die meisten eher merkwürdig. » Wie würde ich von meinem Sterbebett aus darüber denken, wenn ich diese Chance nicht genutzt hätte?«, frage ich mich in solchen Situationen. Denn im vorweggenommenen Rückblick werden die Dinge plötzlich viel klarer. » Sterbebett?«, werde ich dann ungläubig gefragt. » Sie sind doch noch so jung!«
Ganz egal, ob Mann oder Frau: Der moderne Mensch redet nicht gerne über das Sterben. Darüber verlieren wir in unseren hochzivilisierten westlichen Gesellschaften so gut wie kein Sterbenswort. Wir sagen zwar, dass es neulich auf irgendeiner Veranstaltung sterbenslangweilig war. Am Abend davor haben wir uns noch totgelacht. Und wenn es um extensives Feiern, Arbeiten oder Durchhalten geht, sind viele absolut nicht totzukriegen.
Vor allem aber ist unsere Gesellschaft nicht totzukriegen darin, so zu tun, als gäbe es für immer ein Morgen. Okay, werden Sie möglicherweise einwenden, warum auch? Was soll daran falsch sein, eher über eine ständige Verbesserung des Lebens nachzudenken und in die Zukunft zu blicken als darüber, dass schon morgen alles vorbei sein kann? Denn man kann ja nun wirklich nicht jeden Tag so leben, als sei es der letzte, schon gar nicht als junger Mensch. Für sehr viele Dinge braucht es doch Zeit, oft viel Zeit (was man meistens erst später kapiert), und dann gilt es, Geduld zu beweisen und abzuwarten, statt im Hier und Jetzt alles erreichen und erleben zu wollen. Schließlich kann auch niemand jeden Tag nur das verfolgen, was ihm wichtig ist. Es gibt ja immerhin Alltagspflichten und jede Menge Dinge, für die man verantwortlich ist, ohne dass sie für das eigene Leben entscheidend sind.
Dennoch habe ich zum Tod eine Affinität, die nicht nur aus Angst resultiert. Sondern eher aus einer Suche nach dem Verständnis dessen, was wirklich wichtig ist, worauf es ankommt, was eigentlich bleibt vom Leben. Das alles versuche ich, ein wenig besser zu begreifen, solange ich lebe. Der Tod, das Ende des Lebens, ist für mich ein gutes Mittel, um das herauszufinden. Ich stelle ihn mir nicht selten als ein Destillationsgefäß vor, mit dessen Hilfe man gedanklich das herauskristallisieren kann, was am Ende eigentlich bleibt. Oben fließt eine große Menge Leben rein, unten tropft das Destillat heraus: die Quintessenz dieses einen abgelaufenen Lebens. Das Wesentliche halt.
In gewisser Weise sind der Tod und ich uns schon ein wenig vertraut. Zwei unnatürliche Begegnungen hatten wir bisher miteinander. Als ich ein sechsjähriges Kind war, starb mein kleiner Bruder durch einen Unfall vor meinen Augen. Dieses tragische Ereignis hat mich für mein Leben massiv geprägt, was mir erst später, als Erwachsene, so richtig klar wurde. Seit dem Tod meines Bruders wurde in unserer Familie auch das Leben bewusster gelebt. Bewusster soll heißen, dass es nicht so schlimm war, wenn ich wieder einmal eine Fünf in Mathematik nach Hause gebracht habe. Oder wenn die beste Freundin ein paar Tage nicht mit mir geredet hat. Weil eben nichts so schlimm ist wie der Unfalltod eines geliebten Kindes. Und weil das Leben trotzdem immer weitergeht, irgendwie. Weil es für alles eine Lösung gibt, irgendeine. Nur für den Tod nicht. Das hat meine Mutter mir danach eingebläut, und die Gestaltung meines Lebensalltags hat bis heute mit dieser einschneidenden Erfahrung zu tun.
Viele Jahre später hat mir der Tod dann selbst auf die Schulter geklopft. Beinahe wäre ich beim Skifahren unter einer Schneelawine begraben worden. Zweihundertfünfzig Meter bin ich unter dieser Lawine einen Berghang hinuntergerast, über mir eine vier Meter hohe Wolke aus Schneestaub, wie mir hinterher berichtet wurde. Es war eine Nahtoderfahrung. Schwer zu beschreiben, wie sich das anfühlte. Wie ein weißes Handtuch im
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