Michel bringt die Welt in Ordnung
jemand aufwachte und ihn daran hinderte. Eine Stunde hatte er noch Zeit, bevor Lina zum Melken aufstehen musste, und in dieser Stunde musste alles geschehen.
Keiner weiß, wie Michel es anstellte und wie er während dieser Stunde schuftete. Der Korbschlitten musste aus dem Wagenschuppen, Lukas musste aus dem Stall und angeschirrt werden und Alfred musste aus dem Bett und hinaus in den Schlitten. Das Letzte war das Schwerste. Der arme Alfred schwankte und stützte sich schwer auf Michel. Und als es ihm endlich gelungen war, sich bis zum Schlitten zu schleppen, da stürzte er kopfüber hinein zwischen die Schaffelle und blieb liegen, als sei er schon tot.
Michel deckte ihn so zu, dass nur noch die Nasenspitze hervorsah. Dann setzte er sich auf den Kutschbock, zog an den Zügeln und forderte Lukas auf loszutraben. Aber Lukas wandte den Kopf und sah Michel misstrauisch an. Das war ja ein Wahnsinn ohnegleichen, in diesen Schnee hinauszufahren! Verstand Michel das nicht?
»Jetzt bin ich es, der bestimmt«, sagte Michel, »und nachher bist du es, Lukas, auf den es ankommt!«
Schon wurde in der Küche Licht gemacht, Lina war aufgestanden. In letzter Minute glitt Michel mit Lukas und dem Schlitten durch das Katthult-Tor und bog in Schnee und Wind auf den Weg ein.
Hui, da war der Schneesturm über ihm! Der Schnee fegte ihm um die Ohren und verklebte ihm die Augen so, dass er nichts mehr sah, und er wollte doch wenigstens den Weg sehen. Er wischte sich mit dem Wollhandschuh übers Gesicht, aber er sah noch immer keinen Weg, obwohl er zwei Wagenlaternen am Schlitten hatte. Es gab keinen Weg. Es gab nur Schnee. Aber Lukas
war viele Male in Mariannelund gewesen. Vielleicht wusste er tief drinnen in seinem Pferdegedächtnis, wie der Weg ungefähr verlief. Und zäh und ausdauernd war Lukas, er war wirklich ein Pferd, mit dem man sich in den Schnee wagen konnte! Stück um Stück kamen sie vorwärts. Jedes Mal, wenn der Schlitten sich in einer Schneewehe festfuhr, gab es einen heftigen Ruck. Von Zeit zu Zeit musste Michel herunter und mit der Schneeschaufel nachhelfen. Er war stark wie ein kleiner Ochse und in dieser Nacht schaufelte er so viel Schnee, dass er es niemals wieder vergaß.
»Man wird stark, wenn man muss«, erklärte er Lukas. Gewiss, Michel war stark und die erste halbe Meile ging es recht gut, aber dann wurde es schwer, ja, dann wurde es richtig schlimm für Michel. Er war jetzt müde, die Schaufel kam ihm immer schwerer vor, er schaffte es nicht mehr, kräftig draufloszuschaufeln. Er fror, er hatte Schnee in den Stiefeln, seine Zehen waren steif, die Finger taten ihm weh vor Kälte, die Ohren auch, obwohl er einen Wollschal um die Müsse gebunden hatte, damit die Ohren nicht weggeblasen würden. Alles zusammen war wirklich schlimm und Michel verlor allmählich den Mut. Sollte sein Vater Recht behalten, als er gesagt hatte:
»Es geht nicht, Michel, du weißt selbst, dass es nicht geht!«
Lukas ließ auch nach. Es fiel ihm immer schwerer den Schlitten freizubekommen, wenn er sich festgefahren hatte. Und schließlich geschah das, wovor Michel sich die ganze Zeit gefürchtet hatte. Plötzlich versank der Schlitten und Michel wusste, dass sie jetzt im Graben steckten.
Ja, sie waren im Graben und da saßen sie nun. Es half nichts, dass Lukas zog und zerrte und Michel schob, dass er Nasenbluten bekam – der Schlitten stand, wo er stand.
Da kam eine solche Wut über Michel, er geriet in eine solche Raserei über den Schnee und den Schlitten und den Graben und diesen ganzen Mist, dass er fast den Verstand verlor. Er stieß ein Geheul aus, das sich wie das Urgeheul selbst anhörte. Lukas erschrak und Alfred vielleicht auch, wenn er überhaupt noch am Leben war. Michel bekam es mit der Angst und hörte mitten in seinem Geheul auf.
»Lebst du noch, Alfred?«, fragte er ängstlich.
»Nein, jetzt bin ich wohl tot«, sagte Alfred mit einer seltsam heiseren, schrecklichen Stimme. Und da fuhr die Wut aus Michel heraus und es blieb nur noch Traurigkeit zurück. Er fühlte sich einsam. Wenn auch Alfred hinter ihm im Schlitten lag, er war doch ganz allein und hatte niemanden, der ihm helfen konnte. Jetzt wusste er nicht mehr, was er machen sollte. Er hätte sich am liebsten in den Schnee gelegt, um zu schlafen und alles zu vergessen.
Aber da lag doch irgendwo in der Nähe ein Hof … Das war der, den Michel den Pfannkuchenhof nannte. Und plötzlich sah er einen Lichtschimmer und ein bisschen Hoffnung flackerte
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