Michelles Verführung
Brüsseler Nächte
Michelle fühlte sich schwach. Ihre Knie zitterten unkontrolliert, und ihr Herz raste wie wild. Zum wiederholten Male hatte sie sich viel zu weit vorgewagt. In die Höhle des Löwen war sie gegangen. Sie spielte mit dem Feuer. Ein ums andere Mal – als reizte sie dieses Spiel. Doch das tat es nicht. Ganz im Gegenteil. Sie verabscheute es. Gäbe es da nur nicht dieses unerfüllte Verlangen in ihr. Das Verlangen, einem ganz bestimmten Menschen nahe zu sein … Sie wischte sich eine Träne aus dem Auge, als sie erkannte, dass sie immer noch von vollkommen falschen Vorstellungen zerfressen war. Andrew war kein Mensch. Schon lange nicht mehr. Er verkörperte alles Unmenschliche dieser Welt – und besaß dabei doch eine viel größere Anziehungskraft als alle anderen Männer.
Andrew war ein Vampir. Eines der ältesten existierenden Wesen. Der Älteste überhaupt in Brüssel.
Wie töricht von ihr zu glauben, einer wie er könne sich jemals für eine wie sie interessieren. Eine ebenso starke sexuelle Leidenschaft für sie empfinden – oder sich gar in sie verlieben.
Michelles Atem ging stoßweise. Stockend. Es fühlte sich beinahe so an, als würden ihre Lungen im nächsten Moment den Dienst versagen.
Wie lange würde sie es noch ertragen, sich auf diese Weise zu malträtieren? Und warum konnte sie – verdammt noch mal – einfach nicht damit aufhören?
Sie war süchtig danach, sein Gesicht zu sehen. Sein Lächeln, auch wenn er es niemals ihr schenkte. Schon lange nahm er ihre Anwesenheit gar nicht mehr wahr. Sie hätte ebenso gut Luft sein können.
Nur die anderen Vampire im „Club Noir“ bedachten Michelle stets mit gierigen Blicken. Nicht eine Nacht verging, ohne dass die düsteren Wesen der wohlgeformten Rothaarigen ihre offensichtlichen Angebote unterbreiteten. Aber Michelle ging nur bis zu einem gefährlichen Punkt darauf ein – sie verkaufte den Vampiren ihr Blut. Auch in dieser Nacht hatte sie es getan. Gérard war einer ihrer häufigsten Kunden, und auch er wollte mehr als ihren Lebenssaft. Doch am Ende hatte sie es wieder einmal geschafft, sich rechtzeitig von ihm zu lösen.
Die Geldscheine, mit denen er sie für ihren Dienst bezahlt hatte, hielt sie noch immer in den Händen. Ihre Finger kneteten sie nervös. Das Rascheln klang dabei ungewöhnlich laut in ihren Ohren. Es machte sie halb wahnsinnig. Erneut stiegen die Tränen in ihr empor. Sie spürte nur allzu deutlich, wie ein Tropfen über ihre Wange perlte. Der salzige Geschmack legte sich auf ihre zuckenden Lippen.
Sie musste aufhören.
Sie musste endlich damit aufhören.
~~~
Gérard kippte sein drittes Glas Whisky in einem Zug hinunter. Er fuhr sich mit einer Hand durch das schulterlange dunkelbraune Haar und funkelte seinen Thekennachbar wild an. Seine ganze Erscheinung wirkte bis zum Äußersten angespannt. Gerade so, als würde er im nächsten Augenblick explodieren.
Pierre, der Barkeeper, schenkte ihm daraufhin einen kritischen Blick. Zwar stellte er ein weiteres Glas Whisky vor dem Vampir ab, doch lehnte er sich auch auf ein Wort zu ihm vor.
„Ärger?“
„Michelle“, sagte Gérard nur, als würde ihr Name alles Weitere erklären.
Pierre lachte auf. Viel zu oft hatte er in letzter Zeit beobachten müssen, wie sich Michelle den Annährungsversuchen der Vampire entzog. Dabei war sie in seinen Augen nur ein billiges Flittchen. Nichts wert. Abgesehen von ihrem Blut, von dem auch er hin und wieder kostete.
„Was kümmert sie dich? Es gibt andere Frauen. Bessere.“
Pierre grinste. „Du musst dich nur umsehen – und dir eine von ihnen greifen. Sie sind alle willig. Worauf wartest du?“
Aber seine Worte erzielten noch nicht den beabsichtigten Erfolg. Gérard stand reglos da und starrte die weiblichen Gäste vom „Club Noir“ an, ohne sie tatsächlich zu sehen.
Pierre musste wohl deutlicher werden, um den Vampir wieder ins Nachtleben zurückzurufen.
„Oder willst du so werden wie unser Freund Henry?“
Gérard hob eine Augenbraue. Nun wandte er sich dem Barkeeper zu. „Was meinst du?“
„Ist dir noch nie aufgefallen, wie unser Henry diese blonde Marie ansieht? Und findest du es nicht merkwürdig, dass er sich so wenig mit den anderen Frauen beschäftigt?“
Pierre lehnte sich zurück und begann sehr geräuschvoll, eine Reihe Gläser vor sich aufzubauen.
„Er macht sich lächerlich. Sich auf eine Frau beschränken, wo er doch alle anderen haben könnte. Wie dumm von ihm.“ Sein Blick fiel auf
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