Mick Jagger: Rebell und Rockstar
es typisch für ihn ist, hat er weder auf charmante Art seinen Fehler eingestanden noch mit einem ironischen Konter in der Art von »Wäre es euch lieber, ich wäre tot?« reagiert, der uns in Verlegenheit und in die Verteidigungsposition gebracht hätte. Keith hingegen hat sich in seiner Autobiografie ausgiebig mit diesem Thema auseinandergesetzt.
Mick absorbiert letztlich alles Negative. Als »ein sexy schwarzes Loch im Raum« hat ihn der Journalist Keith Altham einmal bezeichnet. Letztendlich müssen also wir wieder einmal die Leere füllen. Keith schleudert mit jeder Falte und jeder lichter werdenden Stelle auf seinem Haupt ein lautes »Fuck You« denen entgegen, die bereits seit 1973 (als der NME in ihm die nächste große Rockikone sah, die den Löffel abgeben würde) Nachrufe auf ihn schreiben. Hingegen ruft Mick mit dem Älterwerden all jenen, die sich durch seine jugendliche Attraktivität und die vermeintliche Arroganz, die damit einherging, bedroht fühlten (und ganz gewiss jenen, die ihm sein Vermögen und seinen Erfolg bei Frauen neideten), ein lautes »Ich habs euch doch immer schon gesagt« hinterher. Es scheint, als hätten gewisse Leute in der Branche nur darauf gewartet, dass irgendetwas passiert, wodurch er menschlicher erscheinen würde.
»Du wirst komisch aussehen mit fünfzig«, sagte der von James Fox gespielte Gangster Chas zu dem von Jagger dargestellten Turner 1968 in Performance . Jagger war damals gerade fünfundzwanzig, doch schon da hatte die Zeile etwas von einem vergifteten Pfeil. Mit fünfzig war Mick Jagger übrigens wesentlich fitter als die meisten Menschen in diesem Alter, wobei in diesem Alter auf seinen Körper so viel Wert zu legen seinerzeit generell noch ziemlich ungewöhnlich war und teils auch als komische Marotte wahrgenommen wurde. Seht euch nur mal das Wandering Spirit -Cover an, auf dem Mick seinen nackten Oberkörper zeigt. Aber vergessen wir das einfach mal und tun so, als bräuchten wir noch mehr Beweise dafür, das dieser Kerl ein lebender Widerspruch ist: Er hat ganz gewiss nie einen Schönheitschirurgen konsultiert. Vergleicht sein Gesicht einmal mit dem von Steven Tyler oder David Bowie oder Madonna. Es sieht ebenso unverfälscht und verlebt aus wie das von Keith. Hier siegte möglicherweise der Stolz über die Eitelkeit, die Seele über den Verstand. Als ich Mick Jagger 2002, als er gerade stramm auf die sechzig zuging, für die Spin interviewte, habe ich ihn auf das Thema angesprochen.
Marc Spitz: Wie ist das für dich mit dem Älterwerden?
Mick Jagger: Das ist schon ein Problem für Rockmusiker. Man muss einfach darauf achten, körperlich in Form zu bleiben.
Marc Spitz: Machst Du irgendetwas Spezielles, um würdevoll alt werden zu können?
Mick Jagger: Nichts anderes als jeder andere auch macht. Gott sei Dank gibt es heute allerlei chirurgische Möglichkeiten.
Ich habe ihn damals nicht weiter bedrängt, doch es sieht so aus, als hätte er noch keinen Gebrauch von dem gemacht, was schönheitschirurgisch alles möglich ist.
Er hat ja noch Zeit. Die Langlebigkeit liegt in den Genen der Jaggers. Micks Mutter starb mit siebenundachtzig, sein Vater wurde dreiundneunzig. Wenn wir uns seinen Auftritt bei der Verleihung der 53. Grammy Awards im Februar 2011 anschauen, sehen wir, dass er immer noch die Hüften schwingen, die richtigen Töne treffen und es mit Musikern aufnehmen kann, die gerade mal ein Drittel so alt sind wie er. Er rockte den Saal mit einem Auftritt zu Ehren des kürzlich verstorbenen Sängers Solomon Burke, indem er – wie bei seiner Jamsession mit den Red Devils Anfang der 90er – wieder einmal den lange vor sich hin schlummernden Bluesfan und Plattensammler in sich hervorkehrte. Auf ganz ähnliche Weise vermittelt er uns mit seiner Version des Dylan-Songs »Watching the River Flow« auf dem Tribute-Album zu Ehren von Ian Stewart Boogie 4 Stu: A Tribute to Ian Stewart (die Mick u. a. zusammen mit den anderen Stones und deren ehemaligen Bassisten Bill Wyman einspielte) das Bild eines Mannes, der gerade einmal halb so alt ist wie er. Durch die erneute Beschäftigung mit dem altehrwürdigen Blues und Soul scheint er wieder das Beste aus sich herauszukitzeln. Womöglich ist es das, was ihn jung hält. Mick und die anderen Stones sind mittlerweile so geworden wie die alten Blueser, die sie als Jugendliche bewundert haben, doch ist es Mick, der die Marschrichtung vorgibt – wie er das auch bei den Grammy Awards auf so unbeschwerte und
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