Mick Jagger: Rebell und Rockstar
vollständig die Art und Weise bestimmte, wie wir Mick Jagger wahrnehmen und dabei viele Tatsachen verdrehen. Er spielt natürlich Musikinstrumente. Er ist der Harmonikaspieler der Rolling Stones seit er den Wettstreit um diese Position mit Brian Jones 1962 für sich entschied. Man muss sich nur einmal das famose Solo am Ende der Liveversion von »Midnight Rambler« auf Get Yer Ya Ya’s Out anhören, um den Sound eines Instruments zu vernehmen, das von jemandem gespielt wird, der ganz offensichtlich dazu geboren wurde und ohne Frage ein begnadeter Musiker ist. Selbst Keith Richards lobt Mick als Naturtalent auf der Bluesharp in den höchsten Tönen. »Er denkt nicht nach, wenn er Mundharmonika spielt«, sagte Keith einmal. »Es kommt aus seinem Inneren. Er hat schon immer so gespielt, seit unseren Anfangstagen.« Und mit dem Riff zu »Brown Sugar«, dem Nummer-eins-Hit für die Stones aus dem Jahr 1971, leistete Jagger einen weiteren und alles andere als geringen musikalischen Beitrag. Wer den Titel gerade gelesen hat, hat den Song wahrscheinlich sofort im Ohr und kann ihn mitsummen. Für mich ist das einer der fünfzig besten Songs, die je geschrieben wurden. Und Mick hat ihn sich ausgedacht. Selbst Keith, der unvergessliche Riffs förmlich im Schlaf erfindet, gibt zu, dass es dieser Riff war, der im Rock’n’Roll-Kosmos herumgeisterte und sich in den Köpfen der Leute einnistete. Nebenbei bemerkt, glauben ohnehin die meisten Leute, dass Keith dafür verantwortlich zeichnet. Mick gilt als viel zu intellektuell und zu anspruchsvoll, als dass man ihm zutrauen würde, so etwas Elementares, Primitives und Raues zu schaffen.
Wenn man sich über die Rolling Stones Gedanken macht, dann denkt man gewöhnlich an das Herz und an die Weichteile. An das Gehirn denkt man eher weniger. »Keith ist das Herz«, konstatierte der Musikjournalist Keith Altham mir gegenüber in einem frühmorgendlichen Telefoninterview, »und Mick ist das Gehirn.« Das Herz und das Hirn. Beides zusammen muss funktionieren, doch ob in der Poesie oder sonst wo, wir rühmen das Herz. Das Herz pumpt. Das Hirn plant. Es ist genau diese Vorstellung vom nüchtern planenden Mick Jagger, die dazu führt, dass wir mit dem Finger auf ihn zeigen und ihm die künstlerischen Fehltritte in der langen, dunklen Geschichte der Rolling Stones anlasten. Sicher war Mick derjenige, der sich damit einverstanden erklärte, den Text von »Let’s Spend the Night Together« in »Let’s Spend Some Time Together« auf Geheiß von Ed Sullivans hasenfüßigen Lakeien zu ändern. Gewiss hat Mick den kranken, verwirrten, aufgedunsenen Brian Jones aus der Band rausgeworfen und ihn ertrinken lassen. Er schob den Hells Angels, die er selber angeheuert hatte, die Schuld für Altamont in die Schuhe. Er hat seine Brüder und Schwestern im Rock’n’Roll für eine Horde Euro-Trash-Grafen und -Gräfinnen an der französischen Riviera im Stich gelassen … und für Andy Warhol. Er besudelte das Ansehen der Stones, indem er mit Paul Young und Nick Rhodes in den frühen 80ern gemeinsame Sache machte, als er in seiner Midlifecrisis steckte und sein Heil in einer Solokarriere als Popstar suchte. Er zog uns für das Ticket für den Film Freejack das Geld aus der Tasche. Und er war es auch, der von den armen Jungs von The Verve Geld dafür sehen wollte, das sie für ihr »Bitter Sweet Symphony« eine Orchesterversion von »The Last Time« als Sample verwendeten. Letztlich ist er auch schuld an so manchem Debakel bei der Fußball-WM 2010, denn alle Teams, mit denen er mitfieberte, schieden überraschend früh aus.
Genau umgekehrt verhält es sich mit Keith, bei dem es, egal was er macht – selbst wenn er an seiner Heroinsucht die Rolling Stones fast zerbrechen lässt –, am Ende darauf hinausläuft, dass das alles nun mal unseren größten Anti-Helden ausmacht. Keith verdient nicht einen Cent weniger und er hat nicht einen Geschäftstermin versäumt, bei dem wichtige Entscheidungen getroffen wurden. »Keith saß in Genf in einer altehrwürdigen Schweizer Bank mit am Tisch und ritzte mit einem Bowie-Messer seine Initialen in die Platte, während Mick, (der frühere Finanzberater der Stones) Rupert Prinz zu Löwenstein-Wertheim-Freudenberg und ich beisammen saßen und ein Steuerkonzept ausarbeiteten. Doch nicht ein einziges Mal hat Keith den Raum verlassen«, erinnert sich der ehemalige Stones-Manager Peter Rudge. Dieses Bild von Mick als der Zyniker und Geizkragen in der Band erhärtet Keith
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