Microsoft Word - Daniel Kehlmann Die Vermessung der Welt
gehabt. Doch als Bonpland reglos auf dem Boden liegengeblieben sei, habe der Zambo die Gelegenheit verstreichen lassen; statt wieder zuzuschlagen, sei er zu Bonplands weggeflogenem Hut gelaufen, habe ihn sich aufgesetzt und sei mit großen Schritten davongegangen.
Wenigstens war den Instrumenten nichts passiert, und auch Bonpland kam nach zwanzig Stunden wieder zu sich: das Gesicht geschwollen, ein Zahn abgebrochen, die Form der Nase leicht verändert, eingetrocknetes Blut um Mund und Kinn. Humboldt, der abends, nachts und in den langen Stunden des Morgens an seinem Bett gesessen hatte, reichte ihm Wasser. Bonpland wusch sich, spuckte und sah mißtrauisch in den Spiegel.
Die Sonnenfinsternis, sagte Humboldt. Ob es wohl gehen werde?
Bonpland nickte.
Sicher?
Bonpland spuckte aus und lispelte, er sei ganz sicher.
Es kämen große Tage, sagte Humboldt. Vom Orinoko zum Amazonas. Ins Innerste des Landes. Er solle ihm die Hand geben!
Mühsam, wie gegen einen Widerstand, hob Bonpland den Arm.
Zur angekündigten Nachmittagsstunde verlosch die Sonne. Das Licht wurde fahl, ein Schwärm Vögel flatterte schreiend empor und wehte im Wind davon, die Gegenstände saugten die Helligkeit auf, ein Schatten flog heran, der Sonnenball wurde zu einer dunklen Scheibe. Bonpland, den Kopf verbunden, hielt den Projektionsschirm des künstlichen Horizonts. Humboldt richtete den Sextanten darauf, mit dem anderen Auge schielte er auf das Chronometer. Die Zeit stockte.
Und kam wieder in Gang. Das Licht kehrte zurück: Der Sonnenball strahlte auf, der Schatten löste sich von Hügeln, Erde, Horizont. Vögel schrien, irgendwo feu— erte jemand einen Schuß ab. Bonpland ließ den Schirm sinken.
Humboldt fragte, wie es gewesen sei.
Bonpland sah ihn ungläubig an.
Er habe es nicht gesehen, sagte Humboldt. Nur die Projektion. Er habe das Gestirn im Sextanten fixieren und auch noch die Uhr überwachen müssen. Zum Aufblicken sei keine Zeit gewesen.
Es werde kein zweites Mal geben, sagte Bonpland heiser. Ob er wirklich nicht hinaufgesehen habe?
Der Ort sei jetzt für immer auf den Weltkarten festgesteckt. Nur wenige Augenblicke erlaubten es einem, die Gangfehler der Uhren mit Hilfe des Himmels zu korrigieren. Manche nähmen ihre Arbeit eben ernster als andere!
Das möge ja sein, aber ... Bonpland seufzte.
Ja? Humboldt blätterte im Ephemeridenkatalog, zückte den Bleistift und begann zu rechnen. Aber was?
Müsse man immer so deutsch sein?
Die Zahlen
An dem Tag, der alles änderte, tat ein Backenzahn so weh, daß er glaubte, wahnsinnig zu werden. Nachts hatte er auf dem Rücken gelegen und dem Schnarchen der Zimmerwirtin nebenan zugehört. Gegen halb sieben, als er müde ins Morgenlicht blinzelte, fand er die Lösung zu einem der ältesten Probleme der Welt. Er taumelte durch den Raum wie ein Betrunkener. Es mußte sofort aufgeschrieben werden, er durfte es nicht vergessen. Die Schubladen wollten sich nicht öffnen lassen, plötzlich hatte sich das Papier vor ihm versteckt, die Feder brach ab und machte Flecken, und dann kam ihm noch der volle Nachttopf in den Weg. Doch nach einer halben Stunde des Kritzelns stand alles auf einigen zerknüllten Blättern, den Rändern eines Griechischlehrbuchs und der Tischplatte. Er legte die Feder weg. Er atmete schwer. Er bemerkte, daß er nackt war, wunderte sich über den Dreck auf dem Boden, den Gestank. Er fror. Die Zahnschmerzen waren kaum zu ertragen. Er las. Durchdachte es Zeile für Zeile, folgte der Beweisführung, suchte nach Fehlern und fand keine. Er strich über das letzte Blatt und sah sein schiefes, verwischtes Siebzehneck an. Über zweitausend Jahre lang hatte man mit Lineal und Zirkel regelmäßige Dreiund Fünfecke konstruiert. Das Quadrat zu konstruieren oder von einem Vieleck die Ecken zu verdoppeln, war kinderleicht. Und wenn man ein Dreieck und ein Fünfeck kombinierte, bekam man ein Fünfzehneck. Mehr war nicht möglich gewesen. Und jetzt: siebzehn. Und er ahnte eine Methode, mit der man würde weitergehen können. Aber die mußte er noch finden. Er ging zum Barbier. Dieser band ihm die Hände fest, versprach, es werde gewiß nicht schlimm sein, und schob ihm mit schneller Bewegung die Zange in den Mund. Schon die Berührung, ein strahlendes Aufleuchten des Schmerzes, ließ ihn fast ohnmächtig werden. Er versuchte noch seine Gedanken zu sammeln, aber dann faßte die Zange zu, etwas klickte in seinem Kopf, und erst der warme Geschmack des Blutes und das Pochen in seinen Ohren brachten ihn
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