Microsoft Word - Daniel Kehlmann Die Vermessung der Welt
wieder in das Zimmer und zu dem Mann mit der Schürze zurück, der sagte, schlimm sei das ja nicht gewesen, oder? Beim Heimgehen mußte er sich an Hauswände leh— nen, seine Knie waren weich, seine Füße gehorchten ihm nicht, ihm war schwindlig. Schon in ein paar Jahren würde es Ärzte für das Gebiß geben, dann würde man diese Schmerzen heilen können und brauchte nicht jeden entzündeten Zahn herauszureißen. Bald würde die Welt nicht mehr voll Zahnloser sein. Auch würde nicht mehr jedermann Pockennarben haben, und keiner würde mehr seine Haare verlieren. Es wunderte ihn, daß außer ihm niemand an diese Dinge dachte. Für die Leute war alles so, wie es gerade war, selbstverständlich. Mit glasi— gen Augen machte er sich auf den Weg zu Zimmermanns Wohnung. Er trat ein, ohne zu klopfen, und legte ihm die Blätter auf den Eßtisch.
Oh, sagte der Professor mitleidig, die Zähne, schlimm? Er selbst habe ja Glück gehabt, ihm fehlten bloß fünf, Professor Lichtenberg habe überhaupt nur mehr zwei, und Kästner sei schon lange zahnlos. Mit spitzen Fingern, wegen eines Blutflecks, nahm er das erste Blatt. Er runzelte die Brauen. Seine Lippen bewegten sich. Es dauerte so lange, daß Gauß es kaum mehr glauben mochte. Niemand konnte so langsam denken!
Das sei ein großer Moment, sagte Zimmermann schließlich.
Gauß bat um ein Glas Wasser.
Ihm sei nach Beten zumute. Das müsse gedruckt werden, am besten unter dem Namen eines Professors. Es sei nicht üblich, daß Studenten schon publizierten.
Gauß wollte antworten, aber als Zimmermann ihm das Wasserglas brachte, konnte er weder reden noch trinken. Er entschuldigte sich mit einer Geste, wankte nach Hause, legte sich ins Bett und dachte an seine Mutter drüben in Braunschweig. Es war ein Fehler gewesen, nach Göttingen zu gehen. Hier war die bessere Universität, aber seine Mutter fehlte ihm, wenn er krank war, noch mehr als sonst. Gegen Mitternacht, als seine Wange noch dicker geworden war und jede Bewegung an jeder Stelle seines Körpers weh tat, wurde ihm klar, daß der Barbier den falschen Zahn gezogen hatte.
Zum Glück waten die Straßen frühmorgens noch leer. So sah niemand, wie er immer wieder stehenblieb, den Kopf gegen Hausmauern lehnte und schluchzte. Er hätte seine Seele dafür gegeben, in hundert Jahren zu leben, wenn es Mittel gegen den Schmerz geben würde und Ärzte, die diesen Namen verdienten. Dabei war es gar nicht schwer: Man brauchte bloß die Nerven am richtigen Ort zu betäuben, am besten mit kleinen Dosen von Gift. Das Curare mußte besser erforscht werden! Es gab eine Flasche davon im chemischen Institut, er würde sich das einmal ansehen. Doch die Gedanken entglitten ihm, und er konnte nur mehr seinem eigenen Stöhnen zuhören.
Das komme vor, sagte der Barbier fröhlich. Schmerz strahle weit aus, aber die Natur sei klug, und der Mensch habe Zähne in Mengen. In dem Moment, als er die Zange hob, wurde es um Gauß dunkel.
Als hätte der Schmerz das Ereignis aus seinem Gedächtnis oder aus der Zeit gelöscht, fand er sich Stunden oder auch Tage später, woher sollte er es wissen, in seinem zerwühlten Bett wieder, eine halbleere Flasche Schnaps auf dem Nachttisch und zu seinen Füßen das Intelligenzblatt der Allgemeinen Literaturzeitung, in dem Hofrat Zimmermann die neueste Methode zur Konstruktion des regelmäßigen Siebzehnecks vorstellte. Neben dem Bett saß Bartels, der gekommen war, um zu gratulieren.
Gauß befühlte seine Wange. Ach, Bartels. Der kannte das ja: Er kam selbst aus der Armut, hatte als Wunderkind gegolten und sich zu Großem erwählt geglaubt. Dann hatte er ihn getroffen, Gauß. Er wußte inzwischen, daß Bartels die ersten zwei Nächte nach ihrer Begegnung wachgelegen und erwogen hatte, wieder ins Dorf zurückzugehen, Kühe zu melken und Ställe auszumisten. In der dritten Nacht hatte er begriffen, daß es nur einen Weg gab, seine Seele zu retten: Er mußte Gauß mögen. Er mußte ihm helfen, wo immer es ging. Von da an hatte er alle Kraft in die gemeinsame Arbeit gesteckt, hatte mit Zimmermann gesprochen, Briefe an den Herzog geschrieben und eines schweren Abends Gauß’ Vater unter Drohungen, an die sich keiner von ihnen erinnern wollte, dazu gebracht, dem Sohn das Gymnasium zu erlauben. Letzten Sommer dann hatte er Gauß zu dessen Eltern nach Braunschweig begleitet. Plötzlich hatte die Mutter ihn zur Seite genommen und mit vor Sorge und Schüchternheit ganz kleinem Gesicht eine Frage gestellt: Ihr Sohn da auf der
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