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Microsoft Word - Daniel Kehlmann Die Vermessung der Welt

Microsoft Word - Daniel Kehlmann Die Vermessung der Welt

Titel: Microsoft Word - Daniel Kehlmann Die Vermessung der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dfg
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gab dem Indianer einen Tritt, der brauchte einen Moment, bis er verstand und in schlechtem Spanisch bestätigte, daß es eine ganz alte Angelegenheit sei und nichts mit der Reise zu tun habe.
Humboldt zögerte. Bonpland, der dazugekommen war, sah ihn vorwurfsvoll an. Aber sie müßten doch weiter, sagte Humboldt leise. Was solle er denn machen?
Pater Zea rief sie zu sich und zeigte ihnen seinen kostbarsten Besitz. Einen zerzausten Papagei, der einige Sätze im Idiom eines ausgestorbenen Stammes sprach. Vor zwanzig Jahren habe es diese Leute noch gegeben, jetzt lebe kein einziger mehr, und niemand verstehe, was der Vogel zusammenrede.
Humboldt streckte die Hand aus, der Papagei pickte danach, blickte zu Boden, als müsse er nachdenken, schüttelte die Flügel und sagte etwas Unverständliches.
Bonpland erkundigte sich, weshalb der Stamm verschwunden sei.
Das passiere, sagte Pater Zea.
Wieso?
Pater Zea musterte ihn mit schmalen Augen. So sei es natürlich leicht. Man komme und bemitleide jeden, der traurig aussehe, und daheim könne man dann schlimme Geschichten erzählen. Aber wer plötzlich mit fünfzig Mann zehntausend Wilde regieren müsse, wer sich jede Nacht frage, was die Stimmen im Wald bedeuteten, und jeden Morgen verwundert sei, daß er noch lebe, beurteile es vielleicht anders.
Ein Mißverständnis, sagte Humboldt. Niemand habe etwas kritisieren wollen.
Vielleicht doch, sagte Bonpland. Einiges wolle er schon wissen. Er stockte und konnte nicht glauben, daß Humboldt ihn gerade getreten hatte. Der Vogel sah zwischen ihnen hin und her, sagte etwas und blickte sie erwartungsvoll an.
Richtig, antwortete Humboldt, der nicht unhöflich sein wollte.
Der Vogel schien zu überlegen und fügte einen langen Satz hinzu.
Humboldt streckte die Hand aus, der Vogel hackte danach und wandte sich beleidigt ab.
Während die beiden Indianer das Boot für sie durch die Katarakte lenkten, bestiegen Humboldt und Bonpland die Granitfelsen oberhalb der Mission. In der Höhe sollte es eine alte Grabhöhle geben. Man konnte kaum Tritt fassen, nur herausragende Feldspatkristalle boten Halt. Als sie oben waren, brachte Humboldt mit einer Konzentration, die bloß nachließ, wenn er wieder nach Moskitos schlagen mußte, ein Stück perfekter Prosa über den Anblick der Stromschnellen, der sich über dem Fluß türmenden Regenbogen und des feuchten Silberglanzes der Weite zu Papier. Dann balancierten sie über den Grat zum Nebengipfel und dem Eingang der Höhle.
Es mußten Hunderte Leichen sein, jede in ihrem eigenen Korb aus Palmblättern, die Knochenhände um die Knie gelegt, den Kopf auf den Brustkorb gedrückt. Die ältesten waren schon vollständig zu Skeletten geworden, andere in unterschiedlichen Stadien der Verwesung: pergamentene Hautfetzen, die Eingeweide zu Klumpen vertrocknet, die Augen schwarz und klein wie Obstkerne. Vielen hatte man das Fleisch von den Knochen gekratzt. Das Geräusch des Flusses drang nicht herauf; es war so still, daß sie ihren Atem hörten.
Friedlich sei es hier, sagte Bonpland, gar nicht wie in der anderen Höhle. Dort seien Tote gewesen, hier nur Körper. Hier fühle man sich sicher.
Humboldt zerrte mehrere Leichen aus ihren Körben, löste Schädel von Wirbelsäulen, brach Zähne aus Kinnladen und Ringe von Fingern. Eine Kinderleiche und zwei Erwachsene wickelte er in Tücher und schnürte sie so fest zusammen, daß man das Bündel zu zweit tragen konnte.
Bonpland fragte, ob das sein Ernst sei.
Er solle schon anfassen, sagte Humboldt ungeduldig, allein könne er sie nicht zu den Maultieren schaffen!
Erst spät kamen sie in der Mission an. Die Nacht war klar, die Sterne leuchteten besonders hell, Insektenschwärme verbreiteten rötliches Licht, es roch nach Vanille. Die Indianer wichen schweigend zurück. Alte Frauen glotzten aus den Fenstern, Kinder liefen davon. Ein Mann mit bemaltem Gesicht trat ihnen in den Weg und fragte, was in den Tüchern sei.
Verschiedenes, sagte Humboldt. Dies und das.
Gesteinsproben, sagte Bonpland. Pflanzen.
Der Mann verschränkte die Arme.
Knochen, sagte Humboldt.
Bonpland zuckte zusammen.
Knochen?
Von Krokodilen und Seekühen, sagte Bonpland.
Von Seekühen, wiederholte der Mann.
Humboldt fragte, ob er sie sehen wolle.
Besser nicht. Der Mann trat zögernd zur Seite. Lieber glaube er ihnen.
An den nächsten zwei Tagen hatten sie es nicht leicht. Sie fanden keine indianischen Führer, die ihnen die Umgebung zeigen wollten, und selbst die Jesuiten hatten es immer eilig, wenn

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