Microsoft Word - Daniel Kehlmann Die Vermessung der Welt
wichtig.
Uninteressant, sagte Humboldt. Er nehme nicht von irgend jemandem nächtliche Briefe entgegen. Das sei ja wie in einem Stück von Kotzebue! Widerwillig entfaltete er das Papier und las. Merkwürdig, sagte er. Ein Gedicht. Unbeholfen gereimt. Etwas über die Bäume, den Wind und das Meer. Ein Raubvogel komme auch vor und ein König aus dem Mittelalter. Dann breche es ab. Offenbar mangels eines Reimworts auf Silber.
Der Diener bat ihn, das Blatt umzudrehen.
Humboldt tat es und las. Großer Gott, sagte er leise.
Gauß setzte sich auf.
Offenbar sei der junge Herr Eugen in Schwierigkeiten geraten. Diesen Zettel habe er aus dem Polizeigefängnis geschmuggelt.
Gauß blickte reglos an die Decke.
Das sei wirklich nicht angenehm, sagte Humboldt. Er sei immerhin Staatsbeamter.
Gauß nickte.
Und helfen könne er auch nicht. Die Dinge würden ihren Gang nehmen. Übrigens könne man sich auf die preußische Justiz verlassen, da geschehe kein Unrecht. Wer nichts begangen habe, könne vertrauen.
Gauß betrachtete seine Pfeife.
Beschämend sei das, sagte Humboldt, sehr unerfreulich. Immerhin handle es sich um seinen Gast.
Mit dem Jungen sei nie etwas anzufangen gewesen, sagte Gauß. Er schob sich den Pfeifenstiel zwischen die Lippen.
Eine Weile schwiegen sie. Humboldt trat ans Fenster und sah in den dunklen Hof hinunter.
Was könne man schon tun?
Ja, sagte Gauß.
Es sei ein langer Tag gewesen, sagte Humboldt. Sie seien beide müde.
Und nicht mehr die Jüngsten, sagte Gauß.
Humboldt ging zur Tür und wünschte eine gute Nacht.
Er rauche noch die Pfeife fertig, sagte Gauß.
Humboldt nahm den Kerzenleuchter mit und schloß die Tür hinter sich.
Gauß verschränkte die Hände hinter dem Kopf. Das einzige Licht kam vom Glimmen seiner Pfeife. Auf der Straße rollte mit blechernem Lärm ein Fuhrwerk vorbei. Gauß nahm die Pfeife aus dem Mund und drehte sie zwischen den Fingern. Er spitzte die Lippen und horchte in die Luft. Schritte näherten sich, die Tür flog auf.
So gehe das nicht, rief Humboldt. Er könne das nicht hinnehmen!
So, sagte Gauß.
Aber man habe wenig Zeit. Heute nacht sei Eugen noch in der Obhut det Gendarmen. Morgen früh werde ihn die Geheimpolizei vernehmen, dann sei nichts mehr aufzuhalten. Wenn sie ihn herausholen wollten, müsse es jetzt sein.
Gauß fragte, ob er wisse, wie spät es sei.
Humboldt starrte ihn an.
Er sei seit Jahren nicht um diese Zeit unterwegs gewesen! Wenn er es recht bedenke, überhaupt noch nie.
Humboldt stellte ungläubig den Kerzenhalter ab.
Na gut. Gauß legte schnaufend die Pfeife weg und stand auf. Das werde ihn unfehlbar noch kränker machen.
Auf ihn wirke er recht gesund, sagte Humboldt.
Das reiche jetzt, rief Gauß. Es sei alles schon schlimm genug. Er müsse sich nicht auch noch beleidigen lassen!
Die Geister
Gendarmeriekommandant Vogt war ausgegangen. Seine Frau, gewickelt in einen wollenen Hausrock, Gesicht und Haare noch wirr vom Schlaf, sagte ihnen, er sei nach dem Empfang in der Singakademie kurz heimgekommen und dann weggerufen worden, offenbar habe es Verhaftungen gegeben. Kurz vor Mitternacht sei er noch einmal zurückgekehrt, habe sich zivil gekleidet und sei wieder losgefahren. Er halte das einmal die Woche so. Nein, wohin wisse sie nicht. Da sei wohl nichts zu machen, sagte Humboldt. Er verbeugte sich und wollte gehen.
Er meine schon, sagte Gauß.
Beide sahen ihn fragend an.
Er meine schon, daß man da etwas machen könne. Humboldt sei eben nie verheiratet gewesen und wisse nicht, wie das ablaufe. Eine Frau, deren Mann einmal die Woche nachts weggehe, wisse sehr genau, wo er stecke, und wenn er es nicht verrate, dann erfahre sie es trotzdem. Sie könne jetzt zwei alten Herren einen großen Gefallen tun.
Sie dürfe wirklich nichts sagen, murmelte Frau Vogt.
Gauß trat einen Schritt näher, legte die Hand auf ihren Arm und fragte, warum sie es ihnen so schwer mache. Ob er und sein Freund wie Denunzianten aussä- hen, wie Leute, die kein Geheimnis bewahren könnten? Er senkte den Kopf und lächelte sie an. Es sei wirklich wichtig.
Aber niemand dürfe wissen, daß es von ihr gekommen sei.
Das sei doch selbstverständlich, sagte Gauß.
Es sei ja nichts Verbotenes. Und auch nur seit dem Tod der Großmutter. Man vermute, daß es verstecktes Geld gebe, aber niemand wisse, wo. Da versuche man eben, was man könne.
Da sehe man es wieder, sagte Gauß, während sie die Treppe hinuntergingen. Frauen könnten nichts für sich behalten. Was einmal die Gattin wisse, erfahre
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