Microsoft Word - Daniel Kehlmann Die Vermessung der Welt
sei er schon lange kein Erzieher mehr. Nur Privatmann und Dichter.
Dichter? Gauß war froh, als er die Hand loslassen konnte.
Er diktiere seinem Sekretär jeden Tag zwischen sieben und halb acht Uhr abends ein Sonett. So halte er es seit zwölf Jahren, und das werde er fortführen bis zu seinem Ableben.
Gauß fragte, ob es gute Sonette seien.
Er sei zuversichtlich, sagte der Minister. Nun aber müsse er aufbrechen.
Sehr bedauerlich, sagte Humboldt.
Allerdings, sagte der Minister, ein wunderbarer Abend, ein großes Vergnügen.
Die beiden streckten die Arme aus und wiederholten das Ritual von vorhin. Der Minister drehte sich zur Tür" und ging mit wohlgesetzt kleinen Schritten hinaus.
Eine unverhoffte Freude, wiederholte Humboldt. Plötzlich sah er bedrückt aus.
Er wolle heim, sagte Gauß.
Ein wenig noch, sagte Humboldt. Das sei Gendarmeriekommandant Vogt, dem die Wissenschaft viel verdanke. Er plane, alle Berliner Gendarmen mit Kompassen auszustatten. So könne man neue Daten über die Feldfluktuation in der Hauptstadt sammeln. Der Gendarmeriekommandant war zwei Meter groß, hatte den Schnurrbart eines Seehundes, und sein Händedruck war fürchterlich. Und das hier, fuhr Humboldt fort, sei der Zoologe Malzacher, das der Chemiker Rotter, das der Physiker Weber aus Halle mit seiner Gattin.
Erfreut, sagte Gauß, erfreut. Er war nahe am Losweinen. Immerhin, die junge Frau hatte ein kleines, wohlgeformtes Gesicht, dunkle Augen und ein tief ausgeschnittenes Kleid. Er heftete den Blick auf sie in der Hoffnung, daß ihn das aufheitern werde.
Er sei Experimentalphysiker, sagte Weber. Den elektrischen Kräften auf der Spur. Sie versuchten sich zu verbergen, aber er gebe ihnen keine Chance.
So habe er es auch gemacht, sagte Gauß, ohne die Augen von der hübschen Frau zu wenden. Mit den Zahlen. Vor langer Zeit.
Das wisse er, sagte Weber. Er habe die Disquisitiones genauer studiert als die Bibel. Welche er allerdings nicht sehr genau studiert habe.
Die Frau hatte zarte, sehr geschwungene Brauen. Ihr Kleid ließ die Schultern nackt. Gauß fragte sich, wie es wäre, seine Lippen auf diese Schultern zu drücken.
Er träume davon, hörte er Doktor Weber aus Halle weitersprechen, daß sich einmal ein Geist wie der des Herrn Professor, also nicht ein speziell mathematischer, sondern ein universeller, der Probleme löse, wo immer sie sich darböten, der experimentellen Welterkundung widmen möge. Er habe so viele Fragen. Es sei sein größter Wunsch, sie Professor Gauß vorzutragen.
Er habe wenig Zeit, sagte Gauß.
Das möge sein, sagte Weber. Aber in aller Bescheidenheit, es sei nötig, und er sei nicht irgendwer.
Gauß sah ihn zum erstenmal an. Vor ihm stand ein junger Mann mit schmalem Gesicht und hellen Augen.
Er müsse das sagen, erklärte Weber lächelnd, um der Sache willen. Er habe die Wellenbewegungen elektrischer Felder studiert. Seine Schriften würden weithin gelesen.
Gauß fragte nach seinem Alter.
Vierundzwanzig. Weber wurde rot.
Eine schöne Frau haben Sie, sagte Gauß.
Weber dankte. Seine Frau machte einen Knicks, aber sie sah nicht verlegen aus.
Ihre Eltern sind stolz auf Sie?
Er vermute es, sagte Weber.
Er solle ihn morgen nachmittag besuchen, sagte Gauß. Eine Stunde bekomme er, dann müsse er sich trollen.
Das werde reichen, sagte Weber.
Gauß nickte und ging zur Tür. Humboldt rief, er müsse bleiben, der König werde erwartet, aber er konnte nicht mehr, er war todmüde. Der schnurrbärtige Gendarmeriekommandant trat ihm in den Weg, jeder versuchte rechts und links und wieder rechts am anderen vorbeizukommen, und es dauerte eine peinliche Weile, bis sie es schafften. An der Garderobe stand ein warziger Mann, umringt von Studenten, und schimpfte in breitem Schwäbisch: Naturforscher, Besserwisser, verloren im Ansich, logikfern, geistlos, die Sterne seien auch nur Materie! Gauß lief hinaus auf die Straße.
Er hatte Magenschmerzen. Stimmte es, daß es in der Großstadt Fuhrwerke gab, die man einfach anhielt, damit sie einen heimbrachten? Aber da war keines. Es stank. Zu Hause hätte er längst im Bett gelegen, und obwohl er Minna nicht gern sah, ihre Stimme nicht hören wollte und nichts ihn so nervös machte wie ihre Anwesenheit, fehlte sie ihm aus reiner Gewohnheit. Er rieb sich die Augen. Wieso war er so alt geworden? Man ging nicht mehr gut, man sah nicht mehr richtig, und man dachte so langsam. Altern, das war nichts Tragisches. Es war lächerlich.
Er konzentrierte sich und rief sich in allen Einzelheiten den
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