Microsoft Word - Pelzer, Dave - Der verlorene Sohn.doc
aus Clorox und Ammoniak im Badezimmer eingesperrt.
Als ich das Geräusch eines vorbeifahrenden Autos höre, drehe ich mich schnell um. Ich winke.
Obwohl ich zerlöcherte Hosen, ein zerrissenes, langärmeliges, dünnes T-Shirt und abgetragene Turnschuhe anhabe, fühle ich mich innerlich glücklich. Ich bin warm. Ich sage mir, dass ich niemals zurückkehren werde. Nachdem ich jahrelang in Angst gelebt habe, Schläge und Folter überlebt und aus Mülleimern Essensreste gegessen habe, weiß ich, dass ich schon irgendwie überleben werde.
Ich habe keine Freunde, kein Versteck, keine Bleibe. Aber ich weiß genau, wohin ich will - zum Fluss. Vor vielen Jahren, als ich noch zu meiner Familie gehörte, fuhren wir jedes Jahr in den Sommerferien hinaus zum Russian River in Guerneville. Die schönste Zeit in meinem Leben waren die Tage, an denen ich an der Johnson's Beach schwimmen, die Superrutsche hinabsausen, bei Sonnenuntergang auf dem Heuwagen mitfahren und mit meinenBrüdern auf dem alten Baumstumpf neben unserem Blockhaus spielen konnte.
Wenn ich mich an den Geruch der riesigen Redwoodbäume und an die Schönheit des dunkelgrünen Flusses erinnere, muss ich lächeln.
Ich bin mir nicht ganz sicher, wo Guerneville liegt, aber ich weiß, dass es nördlich der Golden Gate Bridge liegt.
Sicher werde ich einige Tage brauchen, um dorthin zu kommen, aber das ist mir egal. Wenn ich erst mal da bin, kann ich mir ja Weißbrot und Salami aus dem örtlichen Supermarkt stehlen. Schlafen kann ich am Strand an der Johnson's Beach, während ich den Geräuschen der Autos lausche, die auf ihrem Weg in die Stadt über die alte, mit Immergrün bewachsene Fachwerkbrücke rumpeln.
17
Guerneville war der einzige Ort, an dem ich mich jemals sicher gefühlt habe. Schon seit ich in die Vorschule kam, weiß ich, dass ich dort leben will. Und wenn ich es erst einmal dorthin geschafft habe, weiß ich, dass ich für den Rest meines Lebens in Guerneville bleiben werde.
Als ich beginne, die Eastgate Avenue hinabzugehen, pfeift mir ein kalter Luftzug um den Körper. Die Sonne ist schon untergegangen und der Abendnebel kriecht allmählich vom nahe gelegenen Ozean hinauf. Ich wärme meine Hände in meinen Achselhöhlen und gehe die Straße hinab. Meine Zähne beginnen zu klappern. Die großartige Aufregung der Flucht beginnt nachzulassen. Allmählich denke ich, dass Mutter vielleicht, vielleicht doch Recht hatte. Sosehr sie mich auch geschlagen und angeschrien hat, in der Garage war es wenigstens wärmer als hier draußen. » Und außerdem«, sage ich mir, »lüge ich ja wirklich und stehle mir was zu essen. Vielleicht verdiene ich die Bestrafung ja doch. « Ich halte einen Augenblick an, um meinen Plan noch einmal zu überdenken. Wenn ich jetzt, in diesem Augenblick umkehre, dann wird sie mich anschreien und schlagen - aber das bin ich ja schon gewohnt. Wenn ich Glück habe, wird sie mir morgen einige Überreste vom Abendbrot zu essen geben.
Am nächsten
Tag kann ich mir dann in der Schule wieder Nahrung stehlen. Wirklich, alles was ich tun muss, ist einfach umzukehren und zurückzugehen. Ich lächele mich selbst an.
Ich habe von Mutter bereits Schlimmeres überlebt.
Mitten im Schritt halte ich an. Der Gedanke, nach Hause zurückzukehren, klingt gar nicht so schlecht. »Außerdem«, sage ich mir, » würde ich den Fluss sowieso niemals finden.
« Ich kehre um. Sie hatte Recht.
Ich stelle mir vor, wie ich wieder am Fuß der Treppe sitze, zitternd vor Angst, von jedem Geräusch erschreckt, das ich vielleicht von oben höre. Wie ich die Sekunden zähle und vor 18
jeder Werbeeinblendung im Fernsehen Angst habe; wie ich dann auf das knarrende Geräusch des Fußbodens oben warte, wenn Mutter vom Sofa aufsteht, in die Küche geht, sich einen Drink eingießt und dann losschreit, ich solle nach oben kommen - wo sie mich verprügelt, bis ich nicht mehr stehen kann. Vielleicht kann ich nicht einmal mehr wegkriechen.
Diese verdammten Werbeblöcke!
Das Geräusch einer Grille in der Nähe, die ihre Flügel aneinander reibt, bringt mich in die Realität zurück. Ich versuche das Insekt aufzuspüren und halte, als ich meine, ganz nahe dran zu sein, einen Augenblick inne. Das Zirpen hört auf. Ich bleibe ganz still. Wenn ich die Grille fangen könnte, könnte ich sie vielleicht in meine Tasche sperren und zu meinem Haustier machen. Da ist es wieder, das Geräusch der Grille. Als ich mich gerade nach vorn beuge, um zuzufassen, höre ich das Rumoren von
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