Microsoft Word - Pelzer, Dave - Der verlorene Sohn.doc
Bewegung wird von Mutters freier Hand mit einer deftigen Ohrfeige bestraft. Ihre Hand ist nur 11
undeutlich zu sehen - bis zu dem Augenblick, da sie mein Gesicht berührt. Ich kann nämlich ohne meine Brille nicht gut sehen. Weil heute aber keine Schule ist, darf ich meine Brille nicht tragen. Der Schlag von ihrer Hand brennt auf meiner Haut. » Wer hat dir gesagt, dass du dich bewegen sollst? «, fragt sie höhnisch. Ich halte meine Augen auf und gucke starr auf einen bestimmten Punkt auf dem Teppich. Mutter prüft meine Reaktion noch einmal, ehe sie mich erneut am Ohr packt und zur Haustür führt.
»Dreh dich um!«, schreit sie. »Schau mich an! « Doch ich mogle. Aus dem Augenwinkel werfe ich heimlich einen Blick auf Vater. Er nimmt gerade wieder einen großen Schluck aus seinem Glas. Seine einst kräftigen, straffen Schultern hängen jetzt schlaff herunter. Seine Arbeit als Feuerwehrmann in San Francisco, die jahrelange Trinkerei und das gespannte Verhältnis zu Mutter haben ihren Tribut gefordert. Vater, einst mein großer Held und bekannt dafür, mit welchem Mut er Kinder aus brennenden Häusern rettete, ist jetzt ein geschlagener Mann. Er nimmt noch einen Schluck, ehe Mutter wieder loslegt: »Dein Vater da meint, dass ich dich schlecht behandle. Nun, stimmt das? Stimmt das?«
Meine Lippen zittern. Eine Sekunde lang bin ich unsicher, ob ich jetzt antworten soll. Mutter muss sich dessen bewusst sein, und wahrscheinlich genießt sie ihr >Spiel< umso mehr.
Egal was ich mache, ich habe immer verloren. Ich fühle mich wie ein Insekt, das gleich zerdrückt werden soll. Mein trockener Mund öffnet sich. Ich kann spüren, wie sich ein klebriger Film von meinen Lippen löst. Ich beginne zu stottern.
Ehe ich noch ein Wort herausbringen kann, zieht Mutter erneut heftig an meinem rechten Ohr. Es fühlt sich an, als würde es lichterloh brennen. »Halt deinen verdammten Mund! Niemand hat dir gesagt, dass du reden sollst! Hat dir 12
das jemand gesagt? Hat dir das jemand gesagt? «, bellt Mutter mich an.
Ich suche Vater mit meinen Augen. Sekunden später muss er gespürt haben, dass ich ihn brauche. »Roerva «, sagt er,
»so kannst du doch mit dem Jungen nicht umgehen! «
Erneut spanne ich meinen Körper an, und erneut zieht Mutter an meinem Ohr, aber diesmal behält sie den Druck beim Ziehen bei und zwingt mich so, auf Zehenspitzen zu stehen. Mutters Gesicht färbt sich dunkelrot. »Du meinst also wirklich, dass ich ihn schlecht behandle? Ich ... « Sie zeigt mit ihrem Zeigefinger auf ihre Brust und fährt fort. »Das brauche ich mir von dir nicht sagen zu lassen, Stephen.
Wenn du meinst, dass ich >Es< schlecht behandle, ... nun, dann kann >Es< sofort aus meinem Haus verschwinden! «
Ich strecke meine Beine und versuche, im Stand ein wenig
größer zu werden. Ich beginne, meinen Oberkörper zu versteifen, damit ich bereit bin, wenn Mutter zuschlägt. Doch plötzlich lässt sie mein Ohr los und öffnet die Haustür. »Raus mit dir! «, schreit sie. »Raus aus meinem Haus! Ich mag dich nicht! Ich will dich nicht! Ich habe dich niemals geliebt!
Verdammt noch mal, mach, dass du aus meinem Haus kommst!«
Ich erstarre. Ich weiß nicht genau, wie dieses Spiel laufen soll. Mein Gehirn beginnt sich im Kreis zu drehen, als es alle Möglichkeiten auslotet, welches wohl Mutters wahre Absichten sind. Damit ich überleben kann, muss ich vorausdenken. Vater tritt mir in den Weg. »Nein! «, schreit er. »Jetzt reicht's! Hör auf, Roerva! Hör mit dem ganzen Mist auf. Lass den jungen in Ruhe! «
Jetzt tritt Mutter zwischen Vater und mich. » Was hast du gesagt? Nein hast du gesagt? « Mutters Stimme bekommt einen sarkastischen Tonfall. » Wie oft hast du mir das mit dem >Jungen< schon gesagt? >Der junge< hier, >der jungen 13
da. >Der junge<, >der Junge<, der Junge<. Wie oft, Stephen?« Sie greift nach Vaters Arm und berührt ihn, als würde sie ihn händeringend um etwas bitten; als wäre ihr gemeinsames Leben unendlich viel besser, wenn ich nicht länger bei ihnen wäre - wenn es mich nicht mehr gäbe.
Das Gehirn in meinem Kopf schreit auf » Oh mein Gott!
Jetzt weiß ich endlich Bescheid!«
Ohne weiter nachzudenken, schneidet Vater ihr das Wort ab. » Nein! «, sagt er und breitet seine Hände aus. » Das hier ist nicht richtig. « Am Nachlassen seiner Stimme kann ich erkennen, dass Vaters Energie nachgelassen hat. Er scheint den Tränen nahe zu sein. Er schaut mich an und schüttelt den Kopf, ehe er Mutter
Weitere Kostenlose Bücher