Microsoft Word - Pelzer, Dave - Der verlorene Sohn.doc
wenigstens etwas von meiner Körperwärme zurückzuhalten. Das einzige Vergnügen in meinem Leben ist der Schlaf. Nur im Schlaf kann ich meinem Leben entfliehen. Ich träume liebend gern.
An Wochenenden ist es noch schlimmer. Wenn keine Schule ist, heißt das, dass ich nichts zu essen bekomme und dass ich noch mehr Zeit >zu Hause< verbringen muss. Dann kann ich nur noch versuchen mir vorzustellen, dass ich von meinem >Zuhause< weg bin - irgendwo, ganz egal wo. Seit Jahren schon bin ich der Ausgestoßene in der >Familie<.
Solange ich zurückdenken kann, habe ich Probleme gehabt und Strafe >verdient<. Zuerst habe ich geglaubt, ich sei ein schlechter Junge. Dann habe ich gedacht, Mutter sei krank, weil sie sich nur dann anders verhielt, wenn meine Brüder nicht da waren und mein Vater zur Arbeit fort war. Aber irgendwie habe ich immer gewusst, dass Mutter und ich eine ganz besondere Beziehung hatten. Ich habe auch bemerkt, dass ich aus irgendeinem Grund Mutters alleinige Zielscheibe für ihre unerklärliche Wut und für ihr perverses Vergnügen war.
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Ich habe kein Zuhause. Ich gehöre zu keiner Familie. Tief in meinem Innern weiß ich, dass ich weder jetzt noch jemals Liebe, Aufmerksamkeit oder gar Anerkennung als menschliches Wesen verdiene. Ich bin ein Kind, das sie
>Es< nennen.
In meinem Innersten bin ich ganz allein.
Oben beginnt jetzt der Kampf. Weil es schon nach vier Uhr nachmittags ist, weiß ich, dass beide Eltern betrunken sind. Jetzt geht die Schreierei los. Erst die Beschimpfungen, dann das Fluchen. Ich zähle die Sekunden, bevor die Rede auf mich kommt - und das ist immer so. Der Ton von Mutters Stimme dreht mir die Eingeweide um. » Was soll das heißen? «, schreit sie meinen
Vater Stephen an. » Willst du damit sagen, dass ich >den Jungen< schlecht behandle? Willst du das sagen?« Ihre Stimme nimmt eine Eiseskälte an. Ich kann mir genau vorstellen, wie sie meinem Vater jetzt mit dem Finger ins Gesicht zeigt. »Jetzt ... hör ... mir ... mal ... gut ... zu. Du ...
hast überhaupt keine Ahnung davon, wie >Es< wirklich ist.
Wenn du meinst, dass ich >Es< so schlecht behandle, ...
dann ... kann ... >Es< sich gern eine neue Bleibe suchen, «
Ich kann mir vorstellen, wie jetzt mein Vater - der nach all den Jahren noch immer versucht, für mich einzutreten - den Alkohol in seinem Glas kreisen lässt, wobei die Eisstückchen im Glas klappern. »Jetzt beruhige dich doch erst mal«, fängt er an. »Alles was ich sagen will, ist ... nun ... dass es kein Kind verdient hat, so zu leben. Mein Gott, Roerva, du behandelst ja ... Hunde besser als ... als den Jungen. «
Der Streit steigert sich zu einem ohrenbetäubenden Höhepunkt. Mutter donnert ihren Drink auf die Arbeitsplatte in der Küche. Vater hat eine Grenze überschritten. Niemand darf Mutter je sagen, was sie zu tun oder zu lassen hat. Ich weiß, den Preis für ihre Wut werde ich bezahlen müssen. Mir 10
ist klar, dass es nur noch eine Frage der Zeit ist, bis sie mir befehlen wird, nach oben zu kommen. Ich bereite mich darauf vor. Ganz langsam ziehe ich meine Hände unter meinem Hintern hervor, aber nicht zu weit - denn ich weiß, dass sie meine Haltung manchmal kontrolliert. Ich weiß, dass ich nie auch nur einen einzigen Muskel ohne ihre Erlaubnis bewegen darf
Ich fühle mich so klein in meinem Innern. Ich wünschte nur, ich könnte irgendwie ...
Ohne Vorwarnung öffnet Mutter die Tür, die nach unten zur Garage führt. »Du da!«, schreit sie. »Nimm deinen Arsch in die Höhe und komm nach oben! Sofort!«
Wie der Blitz renne ich die Treppe hoch. Einen Augenblick warte ich auf ihr Kommando, bevor ich die Tür zaghaft öffne.
Ohne einen Ton gehe ich zu Mutter, in Erwartung eines ihrer
>Spielchen<.
Diesmal ist >Stillgestanden!< dran. Da muss ich genau einen Meter vor ihr stehen, Hände an der Hosennaht, den Kopf 45 Grad nach unten geneigt und die Augen fest auf ihre Füße gerichtet. Beim ersten Kommando muss ich so gucken, dass der Blick über ihrem Busen, aber unter ihren Augen ruht. Beim zweiten muss ich ihr dann in die Augen sehen, doch niemals, kein einziges Mal darf ich sprechen, atmen oder einen einzigen Muskel bewegen, ohne dass Mutter es mir zuvor ausdrücklich erlaubt hätte. Mutter und ich spielen dieses Spielchen, seit ich sieben bin. Das heutige Antreten ist also nur Routine, eine, die in meiner leblosen Existenz immer wiederkehrt.
Plötzlich greift Mutter nach meinem rechten Ohr. Zufällig zucke ich zurück. Diese
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