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Miese Stimmung: Eine Streitschrift gegen positives Denken (German Edition)

Miese Stimmung: Eine Streitschrift gegen positives Denken (German Edition)

Titel: Miese Stimmung: Eine Streitschrift gegen positives Denken (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnold Retzer
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zum persönlichen Desaster.
    Die Melancholie zur Zeit der Romantik war die Stimmung einiger sensibler, außergewöhnlicher Individuen. Die Leistungs- und Erfolgsgesellschaften haben das autonome Genie demokratisiert. Die Konsequenz: Depressionen nicht nur für wenige, sondern für das ganze Volk. Die Depression geht mit der Demokratisierung der Vorstellung vom außergewöhnlichen Ausnahmemenschen einher.
    In den postdisziplinären Lebenswelten, seien sie liberale Leistungsgesellschaften oder neoliberale Erfolgsgesellschaften, verändern sich die Werte, die angeboten, nachgefragt und angenommen werden. Verbote und Verordnungen werden von der selbstverordneten Selbstentfaltung und Selbstverpflichtung abgelöst.
    Das disziplinierte Selbst erlebte noch konflikthaft, was es selbst wollte, aber nicht durfte, und litt vielleicht unter diesem Konflikt. Zumindest war den Menschen der Unterschied zwischen ihren eigenen Bedürfnissen und der sozialen Norm deutlich bewusst.
    Das sich selbst erzeugende und kontrollierende Selbst übersieht dagegen leicht die Abrichtung auf die Autonomie. Der Unterschied zwischen dem eigenen Wollen und dem, was die gesellschaftliche Norm verlangt, löst sich auf. Selbstbestimmt will das autonome Selbst nun, was es wollen soll. Paradoxerweise werden Kreativitätsforderungen und -ansprüche nun zu Anpassungsleistungen. In der Erfolgsgesellschaft wird man depressiv oder brennt aus, statt Konflikte »klassenkämpferisch« auszutragen.
    Neben Protest, Empörung und Wut bietet sich als Ausweg der Widerwille an und/oder die Entscheidung, sich zu entziehen. Der Film »Das Leben des Brian« von Monty Python über den naiven und unauffälligen Brian, der – zur gleichen Zeit wie Jesus geboren – aufgrund von Missverständnissen unfreiwillig als Messias verehrt wird, führt den Ausweg eindrücklich vor: Eine riesige Menschenmenge hat sich auf einem Platz versammelt und huldigt Brian in Sprechchören: »Brian, Brian, Brian …!!!« Brian gebietet Ruhe und fordert die Menge auf, nach Hause zu gehen, denn: »Ihr seid doch alle Individuen!« In den hinteren Reihen meldet sich ein Mann und stellt den Autonomieanspruch in Frage: »Ich nicht!«
    Wer dem unbedingten Autonomieanspruch nicht genügt und sich ihm nicht erfolgreich widersetzen oder entziehen kann, fällt der miesen Stimmung oder gar der Depression anheim. Der gnadenlose Wille zur Autonomie drangsaliert das Selbst, bis es aufgibt und sich auflöst. Keine Anstrengung, keine Optimierung kann jemals wirklich zufriedenstellen oder beglücken. Unerbittlich und gnadenlos gegenüber sich selbst werden die selbstverordneten Gebote verfolgt.

Die Depression: nicht nur leidvoll, sondern auch Chance für ein besseres Leben
    »Wofür ein Nachtgänger auch immer bezahlt, es ist ein hoher Preis – es wäre schade, die Ware nicht abzuholen.« [242]   Die leidvollen Gefühle der Erschöpfung, der fehlenden Initiative und des geschwächten Antriebs eröffnen die Chance des Innehaltens. Innehalten kann nötig sein, um weiterzukommen. Man erlaubt sich einen Blick auf sich selbst. Das muss nicht angenehm, kann aber notwendig sein. Bisheriges ist nicht mehr stimmig. Es werden mehr oder weniger deutliche Enttäuschungen erlebt. Etwas kommt zu seinem Ende.
    Innehalten ermöglicht eine Bestandsaufnahme. Die braucht ihre Zeit. Aber die hat man ja jetzt auch, wenn man sie sich gibt. Die eigene Biographie kann in den Blick genommen werden. Man ist jetzt nicht genötigt, die Biographie fortzuschreiben, sondern kann sie sich ansehen. Es lassen sich beim Innehalten Fragen stellen nach der Fortsetzung oder der Korrektur der Biographie und nach einer Neujustierung von Zielen und Werten. Die nicht mehr brauchbaren Werte können einer Prüfung unterzogen werden. Alternative Werte können erwogen werden. Die Präferenzliste der Werte kann umgestaltet werden. Die Chance der Depression besteht darin, Distanz zu sich selbst zu gewinnen und dadurch sich selbst wieder in den Blick zu bekommen.
    Abträglich ist das Festhalten an der Überzeugung, man wüsste schon, wer man wirklich ist. Das führt in den meisten Fällen dazu, die bekannten Soll-Werte vor sich selbst zu bekräftigen. Aber gerade die haben ja ins Unglück geführt: zum Glück. Denn dieses Unglück gibt den Blick auf die Frage frei: Wer bin ich nicht? Depressive Erfahrungen fordern geradezu heraus, diese lebenswichtige Frage zu stellen. Die Beantwortung kann Konsequenzen haben: Man könnte ablassen von den so ermüdenden

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