Miese Stimmung: Eine Streitschrift gegen positives Denken (German Edition)
Anstrengungen, der zu sein, der man nicht ist, könnte verschiedene Ziele beiseitestellen und von den Anstrengungen ablassen, sie verwirklichen zu wollen.
Dieser Weg eröffnet Chancen für ein gutes Leben. Und das hätten wir alle gern. Nicht umsonst finden Ratgeber und andere Bücher zum Thema Lebenskunst reißenden Absatz. Doch halten wir auch hier noch einmal inne. Die Begriffe »Lebenskunst« und »Lebenskünstler« sind nicht unproblematisch. Vermitteln sie doch den Eindruck, als sei unser Leben ein Kunstwerk, das von Künstlern – nämlich uns – geschaffen wird. Aber ist das wirklich so? Oder sind wir damit schon wieder in die Falle der Selbstüberschätzung geraten?
Wir mögen zwar die Vorstellung, dass wir unser Leben selbst bestimmt haben. Unsere Biographien erscheinen dann als eine bewusste Verknüpfung von autonomen Entscheidungen, die uns ein selbstbestimmtes Leben haben führen lassen. Aber ist dies bei genauerem Hinschauen nicht doch nur eine überhebliche Verblendung? Blenden wir dabei nicht das aus, was oftmals die entscheidenden Wendepunkte unserer Biographie waren – Dinge, die uns widerfahren sind, Entwicklungen, die eher durch andere als durch uns selbst angestoßen, beeinflusst und gesteuert wurden? Die Vorstellung, dass nur wir selbst unserem gesamten Leben Form geben, ist nicht nur eine Illusion, sie führt auch auf eine Weise in die Irre, die für uns selbst destruktiv sein kann.
Die Kunst des guten Lebens und die Chancen der Depression können gerade darin bestehen, auf übertriebene Autonomievorstellungen zu verzichten, ohne sie gänzlich über Bord zu werfen. Autonomie ohne Abhängigkeit ist nicht zu bekommen. Nicht der Kampf für die Autonomie und gegen die Abhängigkeit kann die Grundlage eines guten Lebens sein, sondern nur der autonome Umgang mit unseren Abhängigkeiten. Nur zu unserer Autonomie ja zu sagen genügt nicht. Man kann nicht ohne Leid auf Dauer die Zustimmung zu unseren Abhängigkeiten verweigern und zu dem, was uns widerfährt, was wir weder gewählt noch gewünscht, noch erzeugt haben. Selbstbestimmung heißt, sich von den Umständen mitbestimmen zu lassen. Fremdbestimmung ist ein wesentliches Element der Selbstbestimmung, das einem guten Leben nicht im Wege stehen muss, wenn wir es weder ignorieren noch bekämpfen.
Das gute Leben des Weglassens
Oft wird das gute Leben als Kunstwerk verstanden, das sich erweitert, entfaltet und immer großartiger wird. Es ist aber ein Missverständnis zu glauben, dem Leben als Lebenskünstler immer noch mehr hinzufügen zu können und zu müssen. Wenn die Metapher des Kunstwerks überhaupt Sinn machen soll, dann wohl eher in der Form, dass die Kunst im Weglassen besteht. So wie der Bildhauer ein Kunstwerk schafft durch Weglassen eines Teils des Marmors, der stört, der unbrauchbar ist. Depressionen und miese Stimmungen können ein Anlass sein, die Frage des Weglassens auf die Tagesordnung zu setzen, um sich nicht zu weit vom guten Leben zu entfernen.
Das ist nicht immer leicht. Man muss sich dabei zu entziehen wissen, nicht nur was andere angeht. Wir müssen auch zu uns selbst auf Distanz gehen, um wieder zu uns kommen zu können. Abstand zu den gesellschaftlich vermittelten, aber auch zu den von uns selbst entwickelten Bildern kann der erste Schritt sein, um sich von diesen Bildern zu befreien, vielleicht auf sie zu verzichten und zu erkennen, wer man nicht ist. Mehr Distanz zu sich selbst und den anderen kann der große Gewinn einer Depression sein.
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Auswege, umdenken, ablassen – Was tun?
Unsere miesen Stimmungen sind Ausdruck und Ergebnis unserer sehr persönlich erlebten und erlittenen Krisen. Sie werden aber durch die gesellschaftlichen Verhältnisse und unsere kulturellen Umwelten entscheidend beeinflusst. Unsere persönlichen Krisen und unsere Stimmungen fallen mit gesellschaftlichen Krisen und Stimmungen zusammen. Unsere Kultur und die damit verbundenen sozialen und gesellschaftlichen Regeln, die uns beeinflussen und die wir beeinflussen, hinterlassen tiefe Eindrücke in unseren intimsten Erwartungen, Träumen, Hoffnungen, Befürchtungen und natürlich unseren Stimmungen.
Wir erleben uns in unseren ganz persönlichen Krisen, und wir befinden uns gleichzeitig in gesellschaftlichen, kulturellen und ökonomischen Krisen: Gewissheiten funktionieren nicht mehr. Was bisher selbstverständlich war, ist nicht mehr selbstverständlich und sicher. Die Auswege aus den Krisen sind zurzeit noch weniger selbstverständlich.
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