Milano Criminale: Roman (German Edition)
Verrückter aufführt, um sich einen Backenzahn ziehen zu lassen, das Ganze mit einer weißen Rose im Knopfloch?«, erklärt der Arzt.
›Kann man nicht‹, denkt der Bulle. Und genau deswegen stinkt ihm die Sache.
Er darf ihn nicht festnehmen, obwohl er so gut wie sicher ist, dass er hinter dem Überfall steckt. Carminati ist ein alter Bekannter der Madama , auf sein Konto gehen Dutzende Coups. Der bekannteste stammt aus einer Zeit, als es eine Bande gab, die die ›Überall-Gang‹ genannt wurde, weil sie in verschiedenen Teilen Norditaliens zwischen Mailand, Imola und Bologna operierte, immer mit Hilfe von schnellen Autos. Trotz zahlreicher, meisterhaft ausgeführter Schläge war der Name des Verbrechers erst in das kollektive Bewusstsein gelangt, als er der neapolitanischen Theaterlegende Eduardo De Filippo seinen Lancia Aprilia stahl. Der Zwischenfall, an sich kaum mehr als ein Bubenstreich, wurde von den Zeitungen dermaßen ausgeschlachtet, dass der Name Carminati augenblicklich zum eigenständigen Begriff wurde, in Polizei- wie in Verbrecherkreisen.
Nicolosi wusste genau, dass dieser Mann kein banaler Autoknacker war, sondern zu ganz anderen Dingen fähig. Dafür waren die Ereignisse dieses Tages der eindeutige Beweis. Es brauchte einen gewieften Kopf wie ihn, um ein Verbrechen dieser Tragweite bis ins kleinste Detail vorzubereiten. Alibi inklusive.
Der Bulle und der Gangster sehen sich stumm in die Augen, und in diesem Blickwechsel ist alles enthalten. Die Wut des einen und die Genugtuung des anderen, die ihn neben der Beute für zehn lange Monate ununterbrochene Arbeit entschädigt, die er an dem Plan getüftelt hat.
Die anderen sechs Bandenmitglieder, die sich für die Flucht in zwei Gruppen aufgeteilt haben, treffen sich um vier Uhr nachmittags in einer Wohnung im Stadtteil Precotto wieder. Der Plan lautet, hier für ein paar Tage unterzutauchen, bis sich die Wogen geglättet haben.
Sechshundertvierzehn Millionen Lire haben sie erbeutet, einen Teil davon in Form von Wertpapieren und Schecks, die sie auf Carminatis Anweisung hin nicht anrühren dürfen. »Zu riskant«, hat er ihnen erklärt. »Wenn ihr mit denen in der Tasche erwischt werdet, oder schlimmer noch, wenn ihr versucht, sie einzulösen, schicken sie euch ohne Umwege in den Bau. Die Stammregister lassen sich nicht fälschen. Und die sind ganz sicher registriert.«
5
Am folgenden Tag sind die Titelseiten der Zeitungen voll mit Berichten über den Bankraub. Besonders eindrucksvoll: die Summe des geklauten Geldes sowie die Präzision der Durchführung. Die Verantwortlichen sind mitsamt der Beute verschwunden, es gab weder Tote noch Verletzte, und doch hallt das Echo bis in die kahlen Flure des Innenministeriums und lässt mehrere Köpfe der Polizeispitze rollen. Die Kräfte, die zur Ergreifung der Täter mobil gemacht werden, sind bemerkenswert.
Fünftausend Beamte durchkämmen jeden Winkel der Stadt auf der Jagd nach den Verbrechern, auf deren Köpfe eine Belohnung von dreißig Millionen Lire ausgesetzt ist. Jeder Geldtransport wird von einem Jeep mit vier bewaffneten Polizisten eskortiert.
Antonio hat sich nach der Schule auf dem Heimweg zwei Zeitungen gekauft. Zu Hause haben sie nur das katholische Wochenblatt ›Famiglia Cristiana‹, Freude und Glaube der Mutter, die natürlich nicht mit dem Bankraub des Jahrhunderts aufmacht, sondern mit dem Gesetz zur Schließung der Bordelle, über das im Parlament gestritten wird. Tageszeitungen sucht man im Hause Santi vergeblich; um informiert zu sein, hört man die Radionachrichten.
Der Junge isst eilig zu Mittag und schließt sich dann mit der Lektüre in sein Zimmer ein. Er kann es kaum erwarten, in diese Räuber-und-Gendarm-Welt einzutauchen und von der Belohnung zu träumen: dreißig Millionen, das sind hundert Jahresgehälter seines Vaters; wenn er die Räuber schnappen würde, hätte er sein Leben lang ausgesorgt!
Im ›Corriere della Sera‹ springt ihm der Leitartikel von Indro Montanelli ins Auge, der die »erstaunlich gute Organisation der Bande« lobt, »und das in einem Land, das seiner Natur nach eigentlich eher unorganisiert ist«. Es sind Fotos von den Tatfahrzeugen abgebildet und auch eine dieser Zeichnungen, die ›sprechende Porträts‹ heißen und später als Phantombilder bekannt werden sollen.
Den Berichten zufolge wollte einer der Täter, der schon früh am Tatort war, sich gegen die Nervosität etwas für zwischen die Zähne besorgen: Also betrat er den
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