Milano Criminale: Roman (German Edition)
eingesperrt sein«, erklärt Robertino dem Maresciallo, der ihm am nächsten Morgen die Ohren langzieht.
Die Tiger werden wieder eingefangen, und er landet im zarten Alter von acht Jahren zum ersten Mal im Beccaria, der Jugendstrafanstalt Mailands.
3
Auf der Straße wimmelt es von Uniformierten. Als seien sämtliche Bullen der Stadt an den Ort des Überfalls gehastet. Für den bald zwei Worte reichen: der Bankraub . Zwei Stunden sind vergangen, und das Ding ist schon zum Banküberfall schlechthin geworden. Schnell kennen alle die erbeutete Summe, der fassungslose Bankangestellte wiederholt sie wie ein Mantra, und die Schaulustigen verbreiten sie von Ohr zu Ohr: sechshundert Millionen Lire in bar, plus Zirkularschecks und Inhaberpapiere.
›Was für ein Wahnsinnscoup‹, denkt Antonio. Sein Vater, Ennio Santi, der beim Maschinenbaubetrieb Breda am Fließband steht und jeden Morgen lustlos den Blaumann überstreift, verdient fünfundzwanzigtausend Lire im Monat. Zu viert leben sie davon: er, die Eltern und der Bruder. Und nicht einmal schlecht.
Während immer noch Horden von Journalisten, Fotografen und Schaulustigen hinzuströmen, rechnet der Junge eifrig weiter: Um so viel Geld nach Hause zu tragen, müsste sein Vater zweitausend Jahre arbeiten. Zweitausend! Und dann ist er auch noch vor ein paar Monaten mit den Fingern in diese blöde Presse geraten …
Mit solchen Gedanken steht Antonio reglos in seinem Hauseingang und betrachtet fasziniert das Spektakel nach dem Bankraub. Was da vor seinen Blicken abläuft, ist viel spannender als jeder Film, den sie im Filmtheater zeigen.
Die drei Ligera hingegen haben ziemlich schnell die Biege gemacht, Uniformierte können sie gar nicht leiden.
Leiter der Ermittlungen ist ein kleiner, rappeldürrer Glatzkopf: Commissario Nicolosi. Antonio kennt ihn. Alle kennen ihn. Sein Vater sagt immer, dieser Polizist habe Eier aus Stahl: 1946 nahm er Rina Fort fest, die Bestie aus der Via San Gregorio, jene Frau, die sich ihren Spitznamen dadurch verdiente, dass sie in besagter Mailänder Straße Ehefrau und Kinder ihres sizilianischen Liebhabers niedermetzelte, um ihn für sich allein zu haben. Seitdem ist der Polizeibeamte zu einer Art Stadtmythos geworden. Jetzt steht Nicolosi nur zwei Schritte von ihm entfernt. Mit gepflegtem Schnurrbart und schwarzen, flinken Augen, denen nichts entgeht.
»Was starrst du denn so, Jungchen?«, wendet er sich plötzlich zu ihm hin, als er seinen Blick spürt. »Geh nach Hause, Schularbeiten machen, hier gibt es absolut nichts zu sehen.«
»Aber ich habe sie gesehen!«, erwidert Antonio. Vielleicht ein wenig zu leise.
Der Commissario hört nicht hin. Ein herankommender Beamter ruft ihn.
»Ein Händler von hier behauptet, er habe mit einem der Täter gesprochen«, berichtet er, »und ihn unmaskiert gesehen!«
Die zwei Polizisten entfernen sich, und Antonio würde ihnen am liebsten folgen, doch eine Hand auf seiner Schulter hält ihn zurück. Sie gehört einem abgehalftert aussehenden Mann.
»Erzähl mir, was du gesehen hast«, fordert ihn der Fremde auf.
Er wirkt nicht wie ein Bulle: so ganz ohne Uniform und ohne das steife Gehabe. Im Gegenteil. Er trägt einen verblichenen Paletot und Schuhe mit abgelaufenen Sohlen. Er hat eine rote Nase und gelbe Zähne. Auch seine knotigen Finger sind nikotingelb. Die Stimme rau.
Er fragt ihn, ob er eine Esportazione möchte. Antonio nickt. Seit zwei Jahren raucht er, und sein Vater hat nichts dagegen; manchmal bietet er ihm nach dem Abendessen selbst eine Zigarette an.
»Wer sind Sie?«, fragt Antonio nach dem ersten Zug.
»Mario Basile«, lautet die knappe Antwort.
Von dem Notizblock, den er plötzlich in der Hand hält, kann man auf seinen Beruf schließen, noch bevor er sagt, dass er Reporter bei ›La Notte‹ sei.
»Erzähl mir alles von Anfang an«, fordert er ihn auf.
Und Antonio lässt sich nicht zweimal bitten.
4
Umberto Carminati, der Boss der Bande, massiert sich den Unterkiefer. Er hat sich einen Zahn ziehen lassen, damit alles möglichst echt aussieht für sein Alibi. Und das Alibi hält, als noch am selben Nachmittag Commissario Nicolosi mit zwei Beamten an seiner Tür klingelt. Umberto steht ganz oben auf der Liste der Verdächtigen. Der Bulle hat die Handschellen schon griffbereit, doch dann gibt es plötzlich sechs Zeugen plus Zahnarzt, die seine Geschichte bestätigen.
»Wie könnte man einen Mann vergessen, der elegant gekleidet in die Praxis kommt und sich wie ein
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