Milas Lied
vollkommen ausgeschlossen. Und dass sie nun ausgerechnet mich um Hilfe bitten würde ebenso. Dabei wollte ich so gern alles wiedergutmachen. Und genau darum hoffte ich entgegen jeder Wahrscheinlichkeit auf ein Zeichen von ihr.
Es kam kein Zeichen, nur der Alltag. Ich ging wieder regelmäßig zur Uni, ich durfte mir keine Fehlstunden mehr erlauben. Die Semesterferien standen kurz bevor. Alle redeten von irgendwelchen Reisen, von tollen Praktika, ich hatte überhaupt nichts geplant. Ich dachte immer nur an Mila und fragte mich, ob es ihr gut ging.
Ein paar Tage später nahm ich all meinen Mut zusammen und rief Mila auf dem Handy an. Es war ausgeschaltet. Dann rief ich bei Andreas an, aber bei ihm oder einem seiner Leute hatte Mila sich auch nicht gemeldet. Für meine Nachfrage hatte er nur Häme übrig.
Aber so schnell wollte ich diesmal nicht aufgeben. Ich musste wissen, wo sie war. Ich musste sie sehen, mit ihr reden, doch dafür musste ich sie erst mal finden. Hieß es nicht immer, die Welt sei ein Dorf? Konnte sich dann nicht wenigstens Berlin auf der Stelle in eines verwandeln? Nur für einen Tag?
Ich ging zur S-Bahn und fuhr nach Neukölln. Ich klapperte alle Kneipen ab, in denen wir zusammen gewesen waren, auch die in Kreuzberg. Ich fragte alle möglichen Leute nach Mila, aber niemand konnte sich erinnern, sie in der letzten Zeit gesehen zu haben.
Nachdem ich in dem letzten Café auf meiner Liste gewesen war, lief ich erschöpft zurück zur U-Bahn. Mir taten die Beine weh und außerdem war es eigentlich viel zu warm für lange Fußmärsche.
Anschließend fuhr ich kreuz und quer durch die halbe Stadt, mit der U8 bis Gesundbrunnen und zurück, mit der U2 von der Schönhauser Allee bis zum Potsdamer Platz und wieder zurück. Dreimal. Ich wusste, dass das immer eine von Milas Stammstrecken gewesen war, weil so viele Touris mit dieser U-Bahn fuhren. In der U2 waren wir uns auch das erste Mal begegnet. Sie hatte sich sofort in mein Herz gesungen. Es war tausend Jahre her.
Tatsächlich stiegen am Potsdamer Platz ein paar Musiker ein. Ich sprang sofort auf und ging zu ihnen. Mit Händen und Füßen fragte ich sie nach einem Mädchen mit dunklen langen Haaren, großen Ohrringen und Gitarre, woraufhin sie aufgeregt durcheinanderredeten. Im Hintergrund dudelte Musik aus einer kleinen Lautsprecherbox. Aber sie kannten Mila nicht oder hatten überhaupt nicht verstanden, was ich von ihnen wollte.
An einem anderen Tag versuchte ich mein Glück ein zweites Mal, wieder ohne Erfolg. Die U-Bahnen waren voll, aber Mila schien wie vom Erdboden verschluckt zu sein.
Als ich nach Hause kam, erwartete mich eine Überraschung. Theo hatte Besuch. Ich hörte Stimmen in seinem Zimmer und bekam sofort rasendes Herzklopfen. Gerade als ich an der Tür lauschen wollte, ging sie auf. Ein rothaariges Mädchen kam heraus und lächelte mich höflich an.
»Hi«, sagte sie und verschwand im Bad.
Ich stand vollkommen perplex im Flur und konnte nicht glauben, was ich gerade gesehen hatte. Auch eine Art der Konfliktbewältigung, dachte ich fassungslos und ging in mein Zimmer.
Draußen schien die Abendsonne und ihr honiggelbes Licht fiel auf die Dielen. Schön sah das aus. Ich schaute in die raschelnden Zweige der Birke und dachte an die Fledermäuse, die Mila kein Glück gebracht hatten. Dann zog ich mir ein Kleid an, schnappte mir meine Tasche und fuhr zur Uni. In einem Biergarten in Mitte feierten die Soziologen eine Sommerparty und ich hatte große Lust darauf, mich abzulenken.
Als ich gegen Mitternacht wieder nach Hause kam, hatte ich drei verpasste Anrufe und eine Nachricht auf dem AB. Ich nahm mein Handy vom Fensterbrett, wo ich es vor meinem überstürzten Aufbruch liegen gelassen hatte, und wählte die Nummer meiner Mailbox. Ich erkannte die Stimme sofort.
»Rike, hier ist Mila. Es ist alles schiefgegangen. Sie haben mich eingesperrt. Es ging so schnell in dem Supermarkt, ich bin jetzt eine Diebin. Kommst du bitte? Nach Köpenick, ich habe die Adresse vergessen, ich habe fast alles vergessen, ich bin so durcheinander. Seit ich hier bin, kann ich mir überhaupt nichts mehr merke n …« Ich hörte ein Schluchzen, dann ein scharfes Räuspern. »Ich habe noch nie in meinem ganzen Leben etwas gestohlen, das musst du mir glauben. Aber neulic h …« Es rauschte und knackte. »Ich weiß, dass du böse auf mich bist. Ich habe vier Tage und Nächte über alles nachgedacht. Weißt du, wie viele Dinge man in sechsundneunzig Stunden denken
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