Milas Lied
Theo hatte gesagt…
Theo hatte gesagt, ich sollte gefälligst aufhören, mich vor dem Leben zu fürchten. Damit meinte er die Stadt, in der ich seit drei Monaten wohnte und in der ich nur noch nicht angekommen war.
Ich hatte mich nach einem Ort gesehnt, an dem ich endlich niemanden mehr mit Namen kannte, an dem ich jemanden kennenlernte, weil ich es wollte, und nicht weil ich ihn täglich an der einzigen Haltestelle traf, die es gab. Davon abgesehen hatte es mir jeden Morgen die Kehle zugeschnürt, wenn ich aus dem Wohnzimmerfenster meiner Eltern sah. Die Blumenkübel in Terrakotta-Optik wären noch zu ertragen gewesen, der Porzellanreiher hingegen, der über den Teich mit Vaters Goldfischen wachte, verursachte mir regelmäßig Übelkeit. So kam ich nach Berlin.
Als ich klein war, war unser Garten ein ganz normaler Garten gewesen. Mit Unkraut und Sandkiste. Das war, bevor ich in der Sandkiste eine tote Maus fand, bevor mein Vater meine Mutter betrog und bevor meine Eltern beschlossen, aus Liebe zu ihrer Tochter zusammenzubleiben.
Mein Vater und ich bestatteten die arme Maus in einer feierlichen Zeremonie unter den Himbeersträuchern, aber in der Sandkiste wollte ich trotzdem nicht mehr spielen. Kurz darauf verschwanden erst die Sandkiste und dann mein Vater. Seltsamerweise sind diese Ereignisse in meiner Erinnerung bis heute untrennbar miteinander verbunden.
Nach ein paar Wochen tauchte mein Vater wieder auf und ließ an der Stelle, wo meine Sandkiste gestanden hatte, einen Teich ausheben. Er wurde zum Inbegriff dessen, was ich heute als das Ende meiner unbeschwerten Kindheit bezeichnen würde. Für meine Mutter hingegen wurde der Garten zu einer Art Obsession. Je häufiger sie sich mit meinem Vater stritt, umso schöner wurde unser Garten. Irgendwann kam der Reiher und ich stellte meine Mutter zur Rede. Sie berichtete mir vom Seitensprung meines Vaters und erklärte, dass man für die Familie Opfer bringen müsse. Das klang irgendwie logisch, aber da ahnte ich auch noch nicht, dass ich das Opfer sein könnte. Das ist inzwischen sechs Jahre her. Meine Abneigung gegen Goldfische habe ich immer noch nicht überwunden.
Ich saß auf dem Fensterbrett und schaute zu, wie Raketen die Hauswand gegenüber bunt färbten. Plötzlich knarrte meine Tür. Theo.
Auf dem Handteller balancierte er eine Untertasse, die ihm als Aschenbecher diente, in der anderen Hand hielt er eine Flasche Bier. In seinem Mundwinkel klemmte eine Zigarette. Nicht unbedingt die optimalen Voraussetzungen, um ein Gespräch zu beginnen.
»Müssen wir schon los?«, fragte ich.
Theo nickte und ein Klumpen Glut fiel auf den Dielenboden.
Sein Mund verzog sich zu einem hämischen Grinsen. Er mochte es, mich in Panik zu versetzen. Das gehörte zu seinem »Projekt Rike«, in dem es darum ging, mich großstadttauglich zu machen.
Lektio n 1: Die Großstadt ist ein wildes Raubtier. Du kannst sie nicht zähmen. Du musst lernen, schneller zu werden als sie.
Ich fand es aus verschiedenen Gründen gut, Theos Mitbewohnerin zu sein. Gut fand ich zum Beispiel, dass man es mir nicht ansah. Jedenfalls nicht, wenn wir so wie an diesem Abend zusammen in der U-Bahn standen.
Man hätte denken können, wir seien befreundet, man hätte sogar denken können, wir seien ein Paar, und ganz nebenbei strahlte etwas von Theos Gelassenheit auf mich ab. Wir waren keine Freunde.
Niemand wäre auf die Idee gekommen, dass ich in diesem Augenblick eigentlich viel lieber auf meinem Hochbett gelegen hätte. Mit einer Wärmflasche unter den Füßen und einer 200-Gramm-Tafel Vollmilchschokolade an Bord. Wäre mir eine Wahl gebliebe n – ich hätte dieses Schiff süßer Seelentröster definitiv erst im neuen Jahr wieder verlassen und auch nur mit der Gewissheit, dass der Bruch mit sämtlichen Zutraulichkeiten einen Sinn hatte.
Theo betrachtete mich im fahlen Licht der U2, als könnte er meine Gedanken lesen. Wie ein besorgter, großer Bruder sah er mich an und das gefiel mir überhaupt nicht. Es war mir unangenehm, dass mein Anblick ihm offensichtlich ein Gefühl von Verantwortung aufdrängte. Theo gehörte nicht zu der Sorte Mensch, die sich ständig Sorgen macht, und er sollte meinetwegen auch nicht damit anfangen.
Alles an ihm erweckte den Anschein sorgloser Lässigkeit. Seine kurz rasierten Haare, der Dreitagebart, seine Klamotte n – wie angeboren sahen die aus. Ich konnte mir nicht vorstellen, Menschen wie Theo je in einem Klamottenladen anzutreffen. Oder in einer Drogerie.
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