Milchblume
bog Jakob seinen Körper gegen das schwere Tor, zerrte es zur Seite, und wandte sich um. In seinen Augen spiegelten sich zuckende Blitze, die krachend auf dem nahen Hügel niedergingen. Grell glühende Beine eines riesigen Weberknechts. Jakobs Kehle entfuhr ein laut jauchzendes »Jiiiihaaaaa!«
Noch immer umklammerten seine Hände den beinahe schulterhohen Eisengriff des Scheunentors. Wieder schickte der tiefgraue, tobende Himmel einen ohrenbetäubenden Blitz in den Erdboden. Noch näher diesmal. »Jiiiiiiihaaaaaaaaaa!«, schrie Jakob. Er genoss seine zügellose und doch ehrfürchtige Begeisterung. Als der schaurige Moment beinahe ausgekostet war, kroch Gänsehaut über seinen Rücken, seinen Nacken.
Jakob atmete durch und schwang seinen Körper ins Innere der Scheune. Die knapp zwanzig Kühe und die paar Jungstiere waren aus Angst vor dem Unwetter eng aneinandergerückt. Jakob wusste, welche Gefahr das bedeutete. Mit seiner Masse zog das Vieh Blitze an. Der Bursch lief im Halbdunkel auf die Tiere zu, drängte in ihre Mitte, plärrte »Auseinander! Auseinander!« und schwenkte seine Arme wie ein hysterischer Vogel seine Flügel. Die Kühe torkelten ängstlich in alle Richtungen, machten ein paar schnelle Schritte. Kurz darauf fuhr ein Blitz so nahe in die Erde, dass die Scheune bebte.
Und dann versank der Stall für Momente in tintendunklem Nichts, in Stille, angespannt und absolut. Fest umhüllt schien der Raum, gefangen in einem schweren, schwarzen Tuch.
»Jiiiiiiiihaaaaaaaaaaa!«, kreischte Jakob. Der Schrei erschreckte die Tiere und löste ihre Muskeln. Sich aneinander reibend brachten sie ihre Körper in Bewegung, gingen vorsichtig umher, und ihr Atem beruhigte sich. Darüber hinaus schien es, als habe Jakobs Schrei ein Loch in den Himmel gerissen. Mit einem Mal ließ der Regen nach. Bedächtig schoben sich die Wolkenschichten auseinander, öffneten einen Spalt. Daraus ergoss sich sanftes Licht, das auf die Erde fiel.
Stunden später, zum Abendessen, stellte die Seifritz-Bäuerin einen wuchtigen Emailtopf mit Erdäpfelsuppe auf den Küchentisch. Die Seifritz-Großmutter, die dürr war und ebenso zäh wie mürrisch, hatte den Kochvorgang und jeden Handgriff der Schwiegertochter mit Argwohn beobachtet. Die Bäuerin hatte es über sich ergehen lassen, hatte kein Wort darüber verloren. Sie war es gewohnt, die Alte so gut es ging zu ignorieren. Zumindest hat die Hexe die zwei Dutzend Erdäpfel geschält und geschnitten, beruhigte sie sich. Sie wollte sich nicht ausgenutzt und drangsaliert vorkommen, sonst würde sie die Alte irgendwann einmal noch erschlagen. Die Großmutter wiederum hatte sich eine Angewohnheit zugelegt, die es ihr erlaubte, ihre Meinung zu äußern, ohne sich dabei der Mühe unterziehen zu müssen, ihre dünnen, meist klebrig eingetrockneten Lippen auch nur einen Spalt weit zu öffnen: Ein in hohem Ton papageiartig herausgepresstes »Mmm!« reichte. Damit ließ sich vortrefflich maßregeln, ließ sich nörgeln, zurechtweisen, kritisieren, oder minutenlang einfach nur vor sich hin jammern. Wenn sie etwa ihrer Schwiegertochter beim Salzen der Suppe zusah, musste sie nur dieses hohe »Mmm!« krächzen, und die Seifritz-Bäuerin wusste, dass sie ermahnt worden war, nur ja nicht das Essen zu versalzen. Die Großmutter beherrschte eine beachtliche Vielzahl dieser »Mmm!«. Und wusste sie variantenreich einzusetzen. Feinste Nuancierungen in Tonfall, Lautstärke und Eindringlichkeit ergaben unterschiedliche Bedeutungen, die von den anderen am Hof im Laufe der Zeit erlernt worden waren.
Und weil Gewohnheiten anderer anstecken, entfuhr Fritz, dem jüngsten Sohn der Seifritz-Bäuerin, im Gespräch mit seiner Mutter einmal dieses hexenhafte »Mmm!«. Fritz bemerkte seinen Fehler bereits, als er noch die Lippen aneinandergepresst hielt, um den Mmm-Ton summend ausklingen zu lassen. Doch es war zu spät. Die Ohrfeige seiner Mutter fiel derart leidenschaftlich aus, dass sich der Bub unter dem Küchentisch liegend wieder fand, mit geplatztem Trommelfell. Die Taubheit auf seinem linken Ohr sollte nie wieder vergehen. Seit jenem Vorfall, über den niemand in der Familie auch nur ein Wort verlor, war das »Mmm!« am Seifritz-Hof jedenfalls wieder ausschließliches Privileg der Alten.
Viel geredet wurde generell nicht am Hof. Das aber war nichts Besonderes zu jener Zeit in Legg. Auch an diesem Abend war es still in der Küche. Und das, obwohl schon die ganze Familie, Ellenbogen an Ellenbogen, beim Tisch saß.
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