Renate Hoffmann
Für meine Schwester Tanja
Imprint
Titel: Renate Hoffmann
Autorin: Anne Freytag
Coverbild: © Michael Tasca
Copyright: © 2013 Anne Freytag
Kapitel 1
Renate Hoffmann stand vor ihrer Wohnungstür. Ihr Blick fiel auf die ocker-senf-farbene Wand im Flur. Das künstliche Licht der Energiesparlampe flackerte und summte. Sie zögerte. Normalerweise zögerte Renate Hoffmann nie. Frau Hoffmann gehörte zu jenen Menschen, die immer alles bis ins kleinste Detail durchdachten und anschließend dem zuvor festgelegten Plan akribisch folgten. Doch an diesem Tag zögerte sie. Vielleicht lag es am nervösen Flackern der Lampe. Vielleicht lag es aber auch daran, dass sie seit mehreren Tagen immer wieder derselbe Gedanke heimsuchte.
Sie steckte den Schlüssel ins Schloss und zog an der Tür. Ihre Wohnungstür klemmte schon seit Jahren, doch das störte sie nicht. Im Gegenteil, sie mochte die Tatsache, dass niemand außer ihr wusste, wie sie fast lautlos zu öffnen war. Nachdem sie ihren Mantel und den Schal auf einen Bügel und diesen dann an den linken Kleiderhaken gehängt hatte, ging sie in die Küche. In einem geregelten Leben sitzt jeder Handgriff. Alles ist Routine. Frau Hoffmann führte ein solches Leben. Sie musste sich nicht fragen, was sie essen würde, weil sie für jeden Wochentag ein bestimmtes Mikrowellengericht hatte. Sie musste sich auch nicht damit beschäftigen, welche Sendung sie im Fernsehen ansehen würde, weil sie seit Jahren dieselben Folgen ihrer Lieblingsserie ansah.
Die Lasagne dampfte, als Frau Hoffmann die durchsichtige Folie abriss. Der Teller, ein Glas und das Besteck lagen schon wartend auf einem Tablett. Die Videokassette war schon zur richtigen Stelle gespult. Frau Hoffmann hielt nichts von DVDs. Diese neuartige Technik erschien ihr nicht nur übertrieben, sie war ihr regelrecht unheimlich. Neue Dinge im Allgemeinen schreckten sie eher ab. Dies könnte auch damit verbunden sein, dass Frau Hoffmann nie wirklich gute Erfahrungen mit neuen Dingen gemacht hatte.
Als sie den letzten Bissen Lasagne mit einem Schluck Leitungswasser hinunter gespült hatte, drückte sie auf den Pauseknopf. Diese doch sehr bequeme Erfindung schätzte Frau Hoffmann sehr, denn sie konnte es nicht ertragen neben benutztem Geschirr zu sitzen. Der Anblick von Essensresten und verkrustetem Besteck rief bei Frau Hoffmann einen sofortigen Würgreiz hervor. Das geschah sogar dann, wenn sie weder das Geschirr noch das Besteck im Blickfeld hatte. Allein der Gedanke an verkrustete Essensreste genügte. Deswegen schätzte sie die Pausetaste. Diese kleine Taste ermöglichte es ihr, sich des widerlichen Geschirrs zu entledigen, ohne auch nur eine Sekunde ihrer Lieblingsserie zu verpassen.
Um kurz nach zehn machte sich Frau Hoffmann auf den Weg ins Badezimmer, so wie immer zu dieser späten Stunde. Sie wusch sich die Hände exakt fünfundvierzig Sekunden. Dann putzte sie genau drei Minuten lang ihre Zähne, reinigte die Zahnzwischenräume weitere zwei Minuten mit Zahnseide und gurgelte anschließend dreißig Sekunden mit einer antibakteriellen Mundspülung. Immer in dieser Reihenfolge. Wenn sie nach etwas über sechs Minuten fertig war, verließ sie möglichst schnell das Bad, was vermutlich mit ihrer tiefen Abscheu vor dem Spiegel verbunden gewesen war. Wie dem auch sei, sie blieb immer nur so lange im Bad, wie unbedingt nötig.
Für jeden Außenstehenden wäre Frau Hoffmanns Wohnung geschmacklos und ungemütlich. Frau Hoffmann hingegen mochte, dass ihre Einrichtung sich auf Gebrauchsgegenstände reduzierte. Außerdem hatte sie in einer Zeitung gelesen, dass puristische Einrichtung auf einen aufgeräumten Menschen schließen lässt. Und dieser Gedanke gefiel ihr. Die Tatsache, dass nichts von dem, was in ihrer Wohnung stand, geschmackvoll war, störte sie nicht. Vielleicht fiel es ihr aber auch einfach nicht auf.
Als sie sich an jenem Abend streckte, um das Licht auszuschalten, schlich sich wieder der Gedanke ein. Und obwohl sie versuchte, ihn aus ihrem Kopf zu verbannen, begleitete er sie die ganze Nacht. Was Frau Hoffmann nicht ahnte, war, dass dieser Gedanke ihr gesamtes Leben verändern würde.
Kapitel 2
Am kommenden Morgen wachte Frau Hoffmann mit stechenden Kopfschmerzen auf. Die ganze Nacht hatte sie wirres Zeug geträumt. Es war, als hätte sie die Kontrolle über ihr Leben verloren. Doch dann tröstete sie sich damit, dass man seine Träume eben leider nicht steuern könne und ging ins
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