Milchgeld: Kluftingers erster Fall
Aufmachung sah.
»Ja so was, willst du ihm gleich hier den Zapfenstreich blasen oder bist du noch auf einer anderen Beerdigung eingeladen?«
»Vorsicht Maier, rein dienstrechtlich bin ich immerhin dein Vorgesetzter! Hast du schon alles fürs Protokoll aufgenommen?«
»Gerade dabei.«
Maier spulte das Diktiergerät zurück, das er überall dabei hatte, und drückte auf Wiedergabe. Aus dem kleinen Lautsprecher rauschte sein bisheriger Bericht. »Die Situation stellt sich uns wie folgt dar: Das Opfer, männlich, befindet sich in Rückenlage vor einer Couch. Punkt. Nach Angabe des alarmierten Hausarztes seien die Würge- und Strangulationsmale aller Voraussicht nach als Todesursache anzusehen. Punkt. Nach der Lage der Leichenflecken und der bereits stark verminderten Körpertemperatur zu urteilen sei der Tod vor mindestens 12 Stunden …« Maier unterbrach das Band und sagte: »Eine Schätzung von Langhammer, er war einer der ersten bei der Leiche.« Er ließ das Band weiterlaufen: »… eingetreten, das wäre gegen 8 Uhr 30. Punkt.«
»Wer ist der Tote?«
»Sein Name ist Philip Wachter. Steht jedenfalls auf der Klingel.« Kluftinger wollte schon weitergehen, da schob Maier noch nach: »Doktor Wachter übrigens.« Scheint hier irgendwo ein Nest zu sein, dachte Kluftinger, verkniff sich aber die Bemerkung. Schließlich gab es jetzt einen weniger in der Gegend.
»Ich geh dann mal rein«, sagte Kluftinger zögerlich.
Kluftingers Kollegen wussten, dass er keine Toten sehen konnte. Früher dachte er, er würde im Laufe der Zeit sein Problem in den Griff bekommen, aber dem war keineswegs so. Tote gehörten hier nicht gerade zur Routinearbeit. Wenn sie erst gestorben waren, etwa bei einem Verkehrsunfall, ging es noch.
Aber heute Abend hätte er schwören können, dass es bereits im ganzen Haus süßlich roch. Die Blicke seiner Mitarbeiter würden sagen, er solle doch nach Hause gehen, er sei doch wohl krank. Und er wusste, dass sie wussten, dass er sich bei solchen Fällen immer krank fühlte. Doch keiner sprach ihn darauf an.
Es war eine Diskretion, die er sehr schätzte. Er hatte nicht einmal das Gefühl, dass sie hinter seinem Rücken über ihn redeten. Über andere Dinge an ihm sicher, aber darüber nicht. Es war einfach so. Sie zogen ihn mit seinem lichten Haupthaar auf, mit seiner knolligen Nase, mit seinem Engagement in der Musikkapelle, nie aber mit seiner sich so eindeutig manifestierenden Leichenunverträglichkeit.
Kluftinger ging durch die Tür ins Wohnzimmer.
Was sich nun vollzog, war so etwas wie ein Ritual. »Kluftingers Kriminal-Ritual«, hatte Maier es einmal in einem seiner unzähligen Versuche, witzig zu sein, genannt, nach einem scharfen Blick seines Chefs den Begriff aber nie wieder erwähnt.
Und doch war etwas dran. Es lief meist nach dem gleichen Schema ab. Das half Kluftinger nicht nur dabei, seine Übelkeit zu kontrollieren, sollte ein Toter mit von der Partie sein. Es gab ihm auch das sichere Gefühl, nichts zu übersehen. Die Beamten im Wohnzimmer sprachen ihn nicht an. Sie wussten, dass er jetzt seine Ruhe wollte. Und sie wussten auch, dass eine Störung mit ziemlicher Sicherheit einen der seltenen Wutausbrüche des friedfertigen Allgäuers zur Folge haben würde.
Zunächst stand Kluftinger einfach nur da. Ließ den Ort auf sich wirken. Ließ seinen Blick schweifen. Die Wohnung war geschmackvoll eingerichtet, auch wenn sie sehr teuer aussah.
Meist war das ein Widerspruch, fand Kluftinger, aber in diesem Fall … Sein Blick wanderte von einem wuchtigen antiken Esstisch, auf dem sich eine Kaffeetasse, eine Zeitung und ein Teller mit einer halben Marmeladensemmel befanden, über das Bücherregal, vor dem einige der Bücher kreuz und quer auf dem Boden lagen, hin zur ledernen Couch.
Tote kamen bei seiner Bestandsaufnahme immer zuletzt.
Die Leiche lag auf dem Boden vor der Couch, eine Hand war nach hinten ausgestreckt.
Kluftingers Blick wanderte weiter und blieb am Hals des Toten haften. Dunkelblaue Striemen zogen sich darüber. Kluftinger musste schlucken. Seine Übelkeit meldete sich wieder. Er hatte es ja schon längst gewusst, aber dass er es nun mit eigenen Augen sah, ließ ihn für einen kurzen Moment aus der Fassung geraten. Ein Mord. In seiner Gemeinde. An seinem Abend. Am liebsten hätte er geflucht.
Aber er war noch nicht fertig. Nachdem er alles begutachtet hatte, senkte er den Blick. Mit seinen Fingern massierte er seine Nasenwurzel. Die roten Äderchen auf seinen Wangen
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