Millie in der Villa Kunterbunt
den Schnipselschnapsel von Millies Bluse zu entfernen.
»Schneid mir nicht den Hals ab, Mami!«
Mama sagt nichts. Sie muss sich konzentrieren. Millie sieht im Spiegel, wie sie die Lippen fest aufeinanderpresst und Stich für Stich auftrennt. Millie verlagert ihr Gewicht von einem Bein auf das andere.
»Halt bloß still«, murmelt Mama. »Sonst …«
Sonst schneidet sie Millie doch noch den Hals ab?
Endlich hat Mama es geschafft. Triumphierend hält sie den Schnipselschnapsel hoch. Manno, der hat wirklich harte, kratzige Ecken. Ab damit in den Müll!
Millie sieht also zur Theateraufführung schick aus. Trudel in ihrem weißen T-Shirt so lala und Papa ist ein Dickkopf. Er will partout nicht in Weiß gehen.
»Weiße Jeans reicht«, meint er und trägt dazu ein hellblau-weiß kariertes Hemd. Sieht gut aus, Papa!
Aber Mama! Weiße Hose mit weißer Bluse macht sie blass. Millie würde nicht gerade sagen, dass Mama darin bescheuert aussieht, doch vielleicht sollte sie einen ihrer bunten Schals dazu tragen. Sie schaut in ihrer Kommode nach und probiert einen nach dem anderen an, den rot-grauen Rosenschal, das lila-weiß-türkise Tuch mit den türkischen Ornamenten … Am besten ist die durchsichtige, hauchdünne hellgrau-anthrazitfarbene Stola , die Mama sich jetzt über die Schultern legt. Super, Mama! Gar nicht bescheuert! Elegant!
Und wie wird Tante Gertrud aussehen? Selbstverständlich wird sie bei der Vorstellung dabei sein.
Na klar: Da steht sie mit anderen Frauen am Eingang zur Freilichtbühne. Sie ist eine der Eintrittskarten- Abreiß-Damen. Und sie ist von Kopf bis Fuß in Weiß gekleidet. Auf ihrer Krisselkrassel-Frisur trägt sie … Na? … Na? … ein Blütenkränzchen. Ist ja nicht zu fassen!
Alle Abreiß-Damen haben Kränzchen auf dem Kopf.
Papa räuspert sich. Will er was sagen? Dann hält er jedoch den Mund. Ist bestimmt besser so!
Mama gibt Tante Gertrud, der märchenhaften Helferin, ein Küsschen auf die Wange. »Tantchen«, sagt sie, mehr fällt ihr nicht ein.
Trudel rettet die Situation: »Tante Gääätruuud, bist du sssööön!«
Die Tante strahlt. »Ja!«, jubelt sie. »Heute ist Mittsommernacht.«
Was?
»Mittsommernacht! Oder Sommersonnenwende. Der Tag, an dem die Sonne am höchsten steht und nicht untergeht. Da tragen alle in Schweden Weiß und haben Blüten im Haar.«
Alle in Schweden? Auch die Hunde und Katzen?
Papa hat seine Sprache wiedergefunden. »Wir sind nicht in Schweden, Tante!«
»Aber wir führen ein schwedisches Märchen auf«, erklärt Tante Gertrud.
Ist sie deshalb eine Märchenfee?
»Heute ist Premiere, zufällig genau zur Mittsommernacht, und die wird in Schweden mit Blumen und Tänzen gefeiert.«
»Und mit essen«, wirft Trudel ein.
Klar, bei einem Fest muss es immer was Leckeres zu essen geben. Hoffentlich auch hier.
Erst ist jedoch das Theaterstück an der Reihe.
Papa ist sooo lieb! Er besorgt für Millie und Trudel was zu trinken. Sie dürfen schon mit Mama zu ihren Plätzen ins Freilichttheater gehen. In der halbrunden, stufenförmigen Arena sind Klappstühle aufgestellt, die nach und nach von den Leuten besetzt werden. Na, so was: Nicht alle haben sich weiße Klamotten angezogen! Verräter!
Wann geht’s los?
Bald. Tante Gertrud, die Märchenfee, unterstützt jetzt die Platzanweiser und verkauft Programmhefte. Und ganz nebenbei hat sie schnell für Millie und Trudel Sitzkissen herbeigeschafft. Einen großen Stapel runder Schaumstoffauflagen. Müssen sie Mama und Papa welche davon abgeben? Millie könnte gut und gerne vier Kissen gebrauchen. Und Trudel fünf! Mama und Papa verzichten freiwillig.
Toller Tag, heute.
Die Tante wird nun von einem dicken Mann angesprochen, der unterhalb ihrer Reihe direkt vor der kleinen Schwester Platz genommen hat. Kein Wunder, dass Trudel fünf Sitzkissen haben will!
Die Märchenfee zeigt mit der Hand nach hinten. Ey, der Dicke hat die Tante gefragt, wo das Klo ist, und jetzt stiefelt er los.
Papa hat sich beeilt. Er bringt Millie und Trudel Apfelsaft in geriffelten Gläsern. Lecker! Und wohin nun damit?
»Auf den Boden«, flüstert Mama. »Vor eure Füße.«
Oh, oh!
Aber jetzt wird ordentlich aufgepasst! Es ist nämlich nicht ganz einfach, das schwedische Märchen von
Swanhwita
zu verstehen. Zuerst denkt Millie, es ist die Geschichte von
Aschenputtel
, weil eine böse Stiefmutter und ihre hässlichen Töchter auf der Bühne agieren . Doch dann ertönt diese tiefe Stimme aus dem Brunnen, und deswegen kann
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