Verküsst & zugenäht!
PROLOG
23. Februar, Razor Bay, Washington
H immel, Jenny, hauen die eigentlich irgendwann mal wieder ab?“
Jenny Salazar zuckte ein wenig zusammen, als sie hinter sich die halb ärgerlich, halb flehend klingende Frage hörte. Draußen peitschte ein scharfer Wind den Regen über das Wasser und pfiff um die altehrwürdige Villa auf den Klippen. Jenny gönnte sich gerade eine kurze Pause, um den Regentropfen dabei zuzusehen, wie sie sich an dem Bleiglasfenster zu Prismen formten.
Sie drehte sich um. Der dreizehnjährige Austin stand leicht gekrümmt in der Tür zwischen Küche und Esszimmer, seine in dem schwarzen Jackett breit wirkenden Schultern passten so gar nicht zum Rest des schlaksigen Körpers.
Sie zog ihn an sich, ohne sich allzu weit von ihrem Posten wegzubewegen, damit bloß niemand sie sah und auf die Idee kam, den Kopf in die Küche zu stecken und nach ihr zu rufen. Austin erwiderte ihre Umarmung.
„Das werden sie“, versicherte sie ihm. „Dem Wetter nach zu urteilen sogar sehr bald.“ Sie trat einen Schritt zurück, um ihn anzulächeln. „Emmett war eine Institution, Kumpel. Die Leute wollen ihm die letzte Ehre erweisen.“
Austin war fast so etwas wie ein Bruder für sie, doch momentan wusste sie nicht so recht mit ihm umzugehen. Es brach ihr fast das Herz, wie er unter dem Verlust seines Großvaters litt, der ihn aufgezogen hatte. Emmett Pierce hatte seine Frau nur um wenige Monate überlebt, diesen doppelten Schlag schien der Junge kaum zu verkraften.
Austin war in letzter Zeit unberechenbar, in der einen Sekunde ein ausgeglichenes Kind, dann wieder unglücklich und wütend. Zwischendurch klopfte er große Sprüche. Emmettund Kathy hatten ihn schamlos verwöhnt – unter anderem hatten sie ihm zum dreizehnten Geburtstag ein brandneues Boot geschenkt, einen Bayliner Bowrider.
„Dem Nächsten, der mich ‚du armer Junge‘ nennt, knall ich eine, ich schwör’s“, murrte er. „Und Maggie Watson hat mir in die Wange gekniffen, als wäre ich vier Jahre alt.“
Sie wusste nicht, ob sie sich wegen dieses Mangels an Sensibilität ärgern oder über die Empörung in seiner Stimme lachen sollte. „Ich denke, sie wollen einfach ihr Mitgefühl ausdrücken, wissen aber nicht wie.“
„Glauben die, ich vielleicht? Ich meine, soll ich sagen, ‚ist schon okay‘, wenn sie behaupten, dass Opa jetzt an einem besseren Ort ist? Ist er nämlich nicht. Außerdem, welches Genie glaubt eigentlich, dass mir ein ‚du armer Junge‘ irgendwie hilft – ich meine, die kennen mich doch schon mein Leben lang. Und ich werde mit denen mit Sicherheit nicht darüber sprechen, wie es sich anfühlt, dass er tot ist.“ Seine Stimme brach, ungehalten räusperte er sich. „Meine Gefühle sind … sie sind …“
„Deine Gefühle gehen niemanden etwas an.“ Jenny nickte verständnisvoll. Dieses Phänomen war ihr nur zu gut bekannt. Als ihre Welt zusammengebrochen war, war sie nur ein paar Jahre älter gewesen als er.
„Genau“, murmelte er.
Jenny rieb sich kläglich lächelnd den Nacken, der zu schmerzen begann, weil sie den Kopf zurücklegen musste, um Austin in die Augen zu sehen. „Ich kann mich immer noch nicht daran gewöhnen, dass du größer bist als ich, geschweige denn so viel größer. Du überragst mich sogar jetzt, obwohl ich Zehn-Zentimeter-Absätze trage.“
Zum ersten Mal seit Emmetts Tod in der vergangenen Woche lächelte Austin sie strahlend an, so wie früher – ein gewinnendes Grinsen, das kleine Grübchen neben seine Mundwinkel zauberte.
„Ich sage das ja nur ungern, Jenny, aber selbst Heuschrecken sind größer als du.“
„Kleiner Klugscheißer.“ Sie schlug ihm auf den Arm, ließ sich jedoch nicht vom Thema abbringen. „Wann bist du dermaßen gewachsen? Ich könnte schwören, dass du gestern noch nicht so groß warst.“ Tatsächlich hatte sie manchmal schon befürchtet, er könnte ähnlich klein ausfallen wie sie. Sie war weiß Gott nicht begeistert von ihrer Größe, gerade mal knapp eins sechzig, die sie auch nur durch eine tadellose Haltung erreichte. Doch für einen Jungen wäre das wesentlich schlimmer.
Nachdem er offenbar über Nacht zehn Zentimeter oder mehr gewachsen war, konnte sie sich künftig über andere Dinge Sorgen machen.
Austins gute Laune war schon wieder verflogen, er zuckte mit den Schultern und sagte: „Was wird jetzt aus mir, Jenny?“
„Nun, da Emmett mir in seinem Testament das vorübergehende Sorgerecht übertragen hat, wirst du weiterhin bei mir
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