Der Fluch Von Belheddon Hall: Roman
1
H atte sie es wirklich nicht wissen wollen?
Joss trat aufs Gas und beschleunigte aus der Kurve heraus. Oder hatte sie Angst vor der Wahrheit gehabt?
»Bist du sicher, daß ich nicht mitkommen soll?« Bevor sie von zu Hause weggefahren war, hatte ihr Mann Luke seine Hand durch das geöffnete Fahrerfenster gesteckt und auf ihre Finger am Lenkrad gelegt. Auf dem Beifahrersitz lagen das Ortsverzeichnis, der Umschlag mit den Kopien ihrer Geburtsurkunde und den Adoptionsdokumenten und ein Zettel mit der Adresse. Belheddon Hall. Sie hatte den Kopf geschüttelt. »Heute, beim ersten Mal, muß ich alleine fahren, Luke.«
Die hinter Eiben und Lorbeerbüschen versteckte Pforte war schon lange nicht mehr benutzt worden. Das Holz war feucht und aufgequollen und über und über mit schmierigen Flechten besetzt. Als sie das Tor öffnete, blieb es im hohen Gras hängen und schwang nicht wieder zu. Sie gelangte auf einen überwachsenen Pfad, der anscheinend in ein kleines Wäldchen führte. Die Hände tief in den Taschen vergraben, ging sie achtsam weiter und empfand dabei eine Mischung aus Schuldgefühl und überschäumender Freude. Der Wind blies ihr die Haare ins Gesicht, und der Wald um sie roch bitter und scharf nach verfaulendem Laub und Bucheckern. Es war Frühherbst.
Ganz in ihrer Nähe brach ein Fasan mit schrillen Warnrufen aus dem Gebüsch hervor, und sie blieb wie angewurzelt stehen. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals. Dann flog der aufgeschreckte Vogel durch die Bäume davon, und es herrschte wieder Stille. Sogar das beruhigende Rascheln der Blätter in den Baumkronen erstarb, als der Wind sich legte. Sie blickte sich um und horchte, ob nicht irgendein Geräusch zu vernehmen war. Vor ihr machte der Pfad eine Biegung und verschwand hinter einem Stechpalmengebüsch; die glänzenden Blätter wirkten im Licht
des trüben Nachmittags beinahe schwarz, und das feurige Rot der Beeren stach übertrieben ins Auge.
Die Stechpalme trägt eine Beere so rot wie Blut.
Diese Zeile aus einem Weihnachtslied kam ihr plötzlich in den Sinn. Sie blieb unwillkürlich stehen und betrachtete die Büsche, und auf einmal spürte sie, wie sich ihr die Nackenhaare aufstellten. Sie hatte das sichere Gefühl, daß sie aus dem Unterholz zu ihrer Linken beobachtet wurde. Mit stockendem Atem drehte sie sich um.
Einige Sekunden stand sie Auge in Auge mit dem Fuchs; dann war er plötzlich verschwunden. Er machte kein Geräusch, als er sich davonstahl, doch die Stelle unter dem alten Weißdorn war von einem Moment zum nächsten einfach leer. Vor Erleichterung hätte sie beinahe laut aufgelacht. Mit allem hatte sie gerechnet, nur nicht mit einem Fuchs.
Beruhigt ging sie weiter, spürte den Wind, der ihr wieder stärker ins Gesicht blies, und zwei Minuten später bog sie bei den Stechpalmen um die Ecke, worauf sie sich am Rand eines ungepflegten Rasens befand. Vor ihr ragte das Haus auf.
Es war ein altes, graues Gebäude mit mehreren Giebeln und Lanzettfenstern, an dessen verputzten Mauern Efeu, Glyzinien und scharlachroter Wein hochrankten. Reglos blieb sie stehen. Belheddon Hall. Ihr Geburtsort.
Fast auf Zehenspitzen schlich sie näher. Die geschlossenen Läden hinter den Fenstern ließen das Haus wie erblindet erscheinen, dennoch beschlich sie einen Augenblick lang ein unbehagliches Gefühl, als würde sie jemand von dort aus beobachten. Ein Schauer lief ihr über den Rücken, und sie wandte den Blick entschlossen dem von Säulen getragenen Eingang zu, von dem die lange Auffahrtsallee vermutlich zum Haupttor hinabführte. Dort, wo einst Kies den Boden bedeckt hatte, wucherten jetzt kniehoch Disteln, Jakobskraut und vom Wind zerzauste Weidenröschen.
Sie atmete tief ein. In ihr schienen sich Gefühle zu regen, von denen sie nicht einmal gewußt hatte, daß sie sie in sich trug: Verlust, Trauer, Einsamkeit, Enttäuschung, ja sogar Wut. Rasch kehrte sie dem Haus den Rücken zu, wischte sich mit dem Handrücken die Augen und blickte die Auffahrt hinunter.
Lange wanderte sie durch die verwilderten Gärten und über die Rasenflächen, ging zu dem von Riedgras, Binsen und Unkraut umstandenen See und erforschte den Hof um die Stallungen und die Remise, zu dem man durch einen Torbogen neben dem Haus gelangte. Die Schultern zum Schutz vor dem Wind hochgezogen, drückte sie auf die Klinke der vorderen und der hinteren Eingangstür, aber beide waren fest verschlossen. Das hatte sie erwartet. Schließlich stand sie auf der rückwärtigen Terrasse
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