Mina (German Edition)
dich zur Ruh, mein Herz, und leise,
damit die Äuglein du schließen kannst,
sing ich ein Lied, eine sanfte Weise,
das Wiegenlied des Kohlenmanns.
Glück auf!, Glück auf!, Glück auf!, mein Herz.
Träum süß, träum süß, träum süß, mein Herz.
Vergiss des Tages Müh.
Mr Henderson verstummte kurz.
„,Glück auf!‘ ist ein Bergmannsgruß“, erklärte er. „Mein Großvater sang mir dieses Lied vor, als ich noch klein war und manchmal nicht einschlafen konnte. Könnt ihr euch vorstellen, dass ich mal ein kleiner Junge war? Und könnt ihr euch vorstellen, wie mein knorriger, alter, zärtlicher Großvater neben meinem Bett saß und mir vorsang?“
Er sang weiter. Er beachtete die dummen, ignoranten Kinder nicht, die die Augen verdrehten und kicherten – besonders die dummen, ignoranten Jungen, die sich für harte Kerle hielten. Und während er sang, schloss Mina die Augen und stellte sich vor, dass sie die Stimme ihres Vaters hörte.
Dein Vater geht unter Tage, mein Herz,
dein Vater schürft die Kohle,
vor Schweiß und Staub ganz blind,
und schwarz vom Scheitel bis zur Sohle.
Glück auf!, Glück auf!, Glück auf!, mein Herz.
Träum süß, träum süß, träum süß, mein Herz.
Vergiss des Tages Müh.
Dort unten in der Mine, mein Herz,
ist’s kalt und feucht – es erlischt das Licht.
Doch ohne die schwarze Kohle, mein Herz,
haben wir die Wärme nicht.
Glück auf!, Glück auf!, Glück auf!, mein Herz.
Träum süß, träum süß, träum süß, mein Herz.
Vergiss des Tages Müh.
Dein Vater träumt, er legt sich zur Ruh,
in seinem kühlen Grab.
Nun träum auch du, mach die Augen zu,
bis zu dem neuen Tag.
Mr Henderson lächelte und wischte sich die Augen.
„Ihr dürft diese Männer und diese Jungen niemals vergessen“, sagte er. „Die Männer, die in der Erde gruben und Zeug ans Tageslicht brachten, das so schwarz und glänzend war wie Mina McKees Haar.“
In der Pause rotteten sich die Kinder im Schulhof zusammen und stürzten sich auf sie. Sie lachten wie Hyänen und nannten sie Kohlschwarze McKee und Lieblingsschülerin und sagten ihr, sie solle doch wieder unter die Erde kriechen, wo sie hingehöre.
Mina ballte ihre Hände zu Fäusten.
„Ihr blöden, verdammten Hyänen!“, rief sie.
„Oooooh!“, sagten sie. „Mina McKee flucht! Das müssen wir gleich dem Lehrer sagen.“
„Das seid ihr wirklich!“, schrie sie. „Ihr seid verdammte, blöde, verdammte Hyänen!“
Und damit rannte sie zum Schultor hinaus und hinein in den Heston Park. Ihre Schritte wurden langsamer. Sie lauschte, ob ihr jemand folgte. Sie lauschte, ob jemand ihren Namen rief. Aber da war nichts. Ein paar Männer hatten sich auf dem Rasen in die Sonne gelegt, lasen Zeitungen und aßen belegte Brote. Ihre Schutzhelme lagen neben ihnen. Sie schauten kaum auf, als Mina vorbeiging. Sie steuerte auf den Rhododendron zu, ging zwischen den Büschen hindurch zu dem eisernen Tor. Ein Stein hielt das Tor davon ab, nach außen zu schwingen, aber es stand einen winzigen Spalt offen. Minas Blick streifte kurz die Warnschilder, sprang aber dann schnell wieder zum Tunneleingang. Sie war ein kleines, schmales Mädchen. Sie musste das Tor nur noch ein paar Zentimeter weiter aufdrücken, und schon schlüpfte sie in den Tunnel.
Ja, es war sehr dunkel, aber dicht über ihrem Kopf baumelte eine bleiche Lampe. Sie beleuchtete die steilen Stufen, die nach unten führten. Sie stieg hinab, vielleicht zwanzig bröckelige Stufen, vielleicht auch mehr. Dann stand sie im eigentlichen Tunnel, wo eine weitere Glühbirne von der Decke herabhing. Vor ihr konnte sie noch weitere Lampen sehen, die ihr zeigten, dass sich der Tunnel rechts und links in der Ferne verlor. Er war hoch, sodass sie aufrecht stehen konnte. Der Boden war mit Steinen und Geröll übersäht, und hier und da flossen kleine Rinnsale aus Wasser. Es roch feucht und verfault und irgendwie nach Tod. Sie dachte an die Sonne, die die Welt da draußen – ganz nah – mit ihren Strahlen erhellte und wärmte, und sie musste sich befehlen, nicht umzudrehen und wegzulaufen. Sie dachte an Orpheus und an ihren Vater. Sie dachte an die dummen Hyänen-Kinder. Keiner von denen würde etwas Derartiges wagen!
Sie holte tief Luft und wappnete sich. Dann betrat sie das Reich unter der Erde. Ständig stolperte sie über das Geröll und streckte die Arme seitlich aus, um sich an den feuchten Wänden abzustützen. Immer noch wartete sie darauf, dass jemand ihren Namen rief, aber da war
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