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Herbstbringer (German Edition)

Herbstbringer (German Edition)

Titel: Herbstbringer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Björn Springorum
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19. JAHRHUNDERT
    Dumpf hörte sie die Brandung gegen die Klippen schlagen. Einst ein vertrautes Geräusch, entschwand es ihr zusehends, wirkte schon seltsam fern und unerreichbar.
    Die Dunkelheit, die sie umgab, verzerrte alle Geräusche, ließ die aufgewühlten Gespräche über ihr wie durch dicke Watte an ihr Ohr dringen.
    Oder durch feuchte Erde …
    Wieder spürte sie den klatschenden Aufschlag einer Schaufel Erde. Wie lange würde es dauern, bis sie vollständig verscharrt war?
    »Diese Strafe ist zu hart!« Klar und deutlich vernahm sie die flehende Stimme ihrer Mutter. Sie musste lächeln. Trotz allem hatte ihre Mutter nie aufgegeben, um sie zu kämpfen. Auch, als die Sache längst verloren gewesen war.
    »Der Rat hat entschieden, Margaret. Wir dürfen und werden uns ihm nicht widersetzen. Nun schweig – sie kann dich womöglich hören.«
    Onkel Albert. Das Lächeln verflüchtigte sich aus ihren Zügen wie ein aufgeschreckter Vogel. Seine Anwesenheit schloss eine Wendung der Ereignisse endgültig aus. Aber woher kam diese Ruhe, die sie in dieser dunklen Stunde durchströmte?
    »Ein junges Mädchen lebendig zu begraben ist … barbarisch.« Wieder ergriff ihre Mutter das Wort.
    »Komm, Margaret, wir sind hier nicht erwünscht.«
    Ihre Kehle zog sich zusammen. Damit hatte sie nicht gerechnet. Dass ihr Vater bei ihrer Bestrafung zugegen sein würde, kam einer Absolution gleich.
    »Vater«, schluchzte sie. Das Wort verhallte ungehört in der engen Holzkiste. Mit ihm schien ein Bann von ihr abzufallen. Panisch hämmerten ihre Fäuste gegen massive Eiche, immer verzweifelter wurden ihre Schreie.
    Doch es war zu spät.
    Wieder und wieder klatschte Erde auf den Sarg, mit jedem Mal klangen die Stimmen gedämpfter.
    »Sie erfährt die gerechte Strafe für Hochverrat an ihresgleichen. Sie wird für die Schande büßen, die sie über uns gebracht hat«, konnte sie noch verstehen. Dann wurden jegliche Geräusche von einer besonders großen Ladung Erde erstickt.
    Stille umfing sie und sollte für sehr lange Zeit ihre einzige Gesellschaft sein.



1
    Es war August, doch der Sommer welkte bereits. Eine einsame Gestalt spazierte durch den abendlichen Hyde Park . Trotz der milden Temperaturen trug sie einen bodenlangen schwarzen Mantel. Ein Spazierstock mit silbernem Knauf vervollständigte das Bild und ließ den hochgewachsenen Mann mit dem delikat getrimmten Bart wie einen Charles-Dickens-Schurken aussehen.
    Manche Gewohnheiten wird man einfach nicht los.
    Er wanderte am Ufer des Serpentine-Sees entlang. Wie lange war es her, dass er im Gefolge von Henry VIII . hier in diesem Park Jagd auf Rehe und Wildschweine gemacht hatte? Vierhundert Jahre? Oder waren es gar fünfhundert? Es fiel ihm immer schwerer, Ereignisse bestimmten Jahreszahlen zuzuordnen.
    An das Jahr 1665 wiederum konnte er sich lebhaft erinnern. Die Ahnung eines Lächelns huschte über seine Züge, als er sich seinen Gedanken hingab. Es schien, als wäre es erst gestern gewesen, dass sich die Pest an London satt gefressen hatte. Ganze Heerscharen panischer Bewohner waren in die Parks geflohen, um der Ansteckungsgefahr zu entgehen. Bei dem Gedanken, wen die Überlebenden in den damals noch dichten Wäldern angetroffen hatten, musste er noch heute schmunzeln. Was für ein Festmahl das gewesen war!
    Heutzutage verstopften nur noch Jogger und Tai-Chi-Besessene die Wege und Wiesen. Ganz zu schweigen von der beachtlichen Polizeipräsenz, die es immer schwerer machte, die eine oder andere einsame Joggerin unbemerkt zu verschleppen.
    Ein rötlich-gelbes Blatt segelte gemächlich vor seine Füße. Stirnrunzelnd bückte er sich und hob es auf. Er roch daran. »Der Sommer stirbt früh in diesem Jahr«, sagte er leise in die heraufziehende Dämmerung. »Ungewöhnlich früh …«
    Er zögerte. Er wusste, dass dies noch lange nichts bedeuten musste.
    Nach einer kurzen Überlegung machte er kehrt und verließ den dunkelnden Park.
    Man konnte nie wissen.

    Ihr Leben sollte an einem verregneten Dienstagvormittag beginnen. Eigentlich hatte es schon viel früher begonnen. Emily hatte sich jedoch schnell angewöhnt, ihre persönliche Zeitrechnung mit dem Tag ihrer Adoption einsetzen zu lassen.
    Seit sie denken konnte, war sie im Waisenhaus Sheltering Tree untergebracht, einem freudlosen Ort mitten im Nirgendwo, umgeben von trauernden Bäumen und zerplatzten Kinderträumen. Sie wusste weder, wer sie war, noch, wie sie in das Waisenhaus gekommen war. Ihre Vergangenheit war ein

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