Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Minotaurus

Minotaurus

Titel: Minotaurus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
Vom Netzwerk:
endlich zusammenbrechen, kam es dem Stiermenschen vor —
    hätte er den Begriff gehabt —, die ganze Menschheit bräche über ihn herein, ihn zu vernichten. Er duckte sich. Er fühlte sich bedroht, und um sich nicht zu fürchten, setzte er seiner Furcht den Stolz entgegen, den Stolz, Minotaurus zu sein, und was nicht Minotaurus war, war sein Feind. Nur die Minotauren hatten das Recht, im Labyrinth zu sein, in einer Welt, außer der es für ihn keine andere Welt gab — mottete doch nur ein vages Gefühl von Kuhwärme von den Ställen her, wo er aufgewachsen war, in seiner Erinnerung. Der Haß kam über ihn, den das Tier gegen den Menschen hegt, von dem das Tier gezähmt, mißbraucht, gejagt, geschlachtet, gefressen wird, der Urhaß, der in jedem Tier glimmt. Seine Augen wurden voll Wut. Aus seinem Maul trat Schaum, und wie der Jüngling sich von der Wand löste, weil er das Sich-Ducken des Minotaurus als dessen Sterben mißdeutete, überzeugt, ihn tödlich verwundet zu haben, und wie nun die Menschen, die Mädchen und die Jünglinge, um den Geduckten, dessen Wut sie nicht bemerkten, einen Kreis bildeten und ebenfalls jubelten und im wilden Ringelreigen um den Minotaurus herumtanzten, immer schneller, immer übermütiger, als wären sie gerettet, immer toller, ohne zu bedenken, daß sie schon allein durch das Labyrinth verloren waren — hätten sie doch auch beim Tode des Stiermenschen den Ausgang aus den ineinanderge-schachtelten Spiegelwänden nicht gefunden —, immer unvorsichtiger im Rausch ihrer vermeintlichen Freiheit, immer 15

    enger den johlenden Kreis ziehend, immer bedrohlicher in der hereinbrechenden Nacht, in der er nur noch Menschen sah und nicht mehr seine eigenen Spiegelbilder, da die herumwirbelnden und herumhopsenden Menschen ihm die Sicht auf die Wände des Labyrinths verdeckten, so daß diese ihn nicht mehr widerzuspie-geln vermochten, fühlte sich der Minotaurus auch von den Minotauren im Stich gelassen und verraten. Er rollte die Augen, schnaubte, ging tiefer, spannte die Muskeln, schnellte hoch, rannte an, nahm ein Mädchen auf die Hörner und verschwand mit ihm, es immer wieder hochschleudernd, im Labyrinth.
    Darauf, wutschnaubend zurückkehrend, mit blutverschmierten Hörnern — so oft hatte er zugestoßen —, fand er die Menschen eng in einem schattenhaften Knäuel zusammengedrängt, während sich über ihnen der hungrige Gefiederdschungel auf den Wänden schon niedergelassen hatte, ein dunkles Knäuel über einem dunklen Knäuel, ein Geramsel, dessen Krächzen, Pfeifen, heiseres Schreien und Schnattern sich mit dem Angstgeheul der Menschen vermischte.

    16

    Der Mond war irgendwo hinter dem Labyrinth am Aufgehen, die Nacht, nur spärlich von der versunkenen Sonne getönt, erhellte sich. Der Minotaurus griff an, stieß zu, in ein weiches Durcheinander von weißen Leibern, wühlte sich durch, stieß wieder zu, wälzte sich, trampelte herum, stampfte nieder, spießte auf, zerfetzte, schlug zu, zerschlitzte, während es um ihn herum niederstürzte, hackte, knackte, knirschte, riß, schmatzte, so daß der schreiende und heulende Menschenknäuel, in wel-chem der Minotaurus wütete, von einem dichten Geflatter kreischender Aasvögel eingehüllt wurde: Bartgeier, Schmutz-geier, Schopfgeier, Königsgeier, Kappen-, Kutten-, Ohren-, Kahlkopf- und Rabengeier, Kondor und Urubu schnappten, würgten hinunter, tauchten erneut hinein; ohne Unterlaß zusto-
    ßend, riß der wütende Stiermensch im Menschendurcheinander und -übereinander Glieder aus, soff Blut, brach Knochen, wühlte in Bäuchen und Schößen, bis die struppige Wolke von Flügeln, Federn, Hälsen, Augen, Schnäbeln, Fängen und Kral-len im Mondlicht sich aufgelöst hatte. Der Minotaurus war allein. Geblendet vom Mond, sah er auf den kalten Wänden seine Spiegelbilder wieder als schwarze Schatten, die sich ineinanderschoben und zusammenwuchsen zu einem Schatten-labyrinth im Labyrinth. Er hob die Arme, drohte mit den Fäusten, schüttelte sie, mit ihm hoben seine Spiegelbilder die Arme, drohten mit den Fäusten, schüttelten sie, was seine Wut derart steigerte, daß er sich mit gesenktem Stierkopf blindlings dem ersten Schatten entgegenwarf. Er durchbrach die Wand, suchte wütend in den Glassplittern das Spiegelbild, das doch das seine war, es schien ihm unter den Splittern begraben zu sein. Er stieß mit dem gewaltigen Kopf zu, und als er an der nächsten Wand sein Spiegelbild erblickte, begriff er immer noch nicht, griff es erneut

Weitere Kostenlose Bücher