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Minotaurus

Minotaurus

Titel: Minotaurus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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von Spiegelbildern mit dem Wesen identisch und wiederum als Spiegelbilder von Spiegelbildern von Spiegelbildern spiegelverkehrt waren, bis sie sich im Unendlichen verloren. Das Wesen tanzte durch sein Labyrinth, durch die Welt seiner Spiegelbilder, es tanzte wie ein monströses Kind, es tanzte wie ein monströser Vater seiner selbst, es tanzte wie ein monströser Gott durch das Weltall seiner Spiegelbilder. Doch plötzlich hielt es in seinem Tanz inne, stand starr, kauerte sich nieder, starrte mit aufmerksamen Augen, und mit ihm kauerten und äugten seine Spiegelbilder: Tanzend hatte das Wesen zwischen den tanzenden Spiegelbildern Wesen gesehen, die nicht tanzten und die keine Spiegelbilder waren, die ihm gehorchten. Das Mädchen, wie das kauernde Wesen widergespiegelt, stand unbeweglich, nackt, mit langen schwarzen Haaren zwischen den kauernden Wesen, die überall waren, vor ihm, neben ihm, hinter ihm, so wie es auch überall war, vor ihm, neben ihm, hinter ihm. Das Mädchen wagte sich nicht zu rühren, den angstvollen Blick auf das Wesen geheftet, das vor ihm kauerte und ihm am nächsten war.
    Es wußte, daß es nur ein kauerndes Wesen gab, daß die anderen kauernden Wesen Spiegelbilder waren, aber es wußte nicht, wer das Wesen und nicht sein Spiegelbild war.

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    Vielleicht war es das Wesen, das vor ihm kauerte, vielleicht sein Spiegelbild, vielleicht ein Spiegelbild seines Spiegelbilds, das Mädchen wußte es nicht. Es wußte nur, daß seine Flucht vor ihm es zu ihm geführt hatte, und neben dem kauernden Wesen sah es sich selber gespiegelt, und weiter vor ihm sah es sich selber von hinten und neben sich ein kauerndes Wesen von hinten, und so fort durch endlose Räume. Die Hände über die Brüste gekreuzt, sah es gebannt auf das immer noch vor ihm kauernde Wesen. Es glaubte, es berühren zu können. Es glaubte, seinen Atem zu spüren. Es glaubte, sein Schnauben zu hören. Sein gewaltiger, mit einem fahlen lichtbraunen Pelz bedeckter Kopf war der eines Auerochsen, die Stirn hoch, breit und von verfilzten Wollhaaren überwuchert, die Hörner kurz und so gebogen, daß die Spitzen über der Wurzel standen, die rötlichen Augen schienen eher klein im Verhältnis zum Schä-
    del, und die Umrandung, in der sie lagen, war erhöht, die Augen waren unergründlich. Der sanft geneigte massige Nasenrücken führte zu schiefgestellten Nüstern, aus dem Maul hing eine 8

    lange bläulichrote Zunge und unter dem Kinn ein zopfiger geiferverklebter Bart. Dies alles wäre zu ertragen gewesen, aber das Unerträgliche war der Übergang dieses Bullen zum Menschen. Über dem Auerochsenschädel wölbte sich ein Gebirge von struppigem und dann wieder abgeschabtem Fell, aus dessen Grannen, und Strähnen zwei Menschenarme wuchsen, die sich auf den gläsernen Boden stützten. Es war, als ob der ungeheure Kopf und der Buckel über ihm aus dem Leib eines Mannes gewuchert wären, der sprungbereit vor dem Mädchen kauerte und dann wieder neben und hinter ihm. Der Minotaurus erhob sich. Er war gewaltig. Er begriff plötzlich, daß es noch etwas anderes als Minotauren gab. Seine Welt hatte sich verdoppelt.
    Er sah die überall widergespiegelten Augen, den Mund, die langen schwarzen Haare, die über die Schultern flossen, er sah die weiße Haut, den Hals, die Brüste, den Bauch, den Schoß, die Schenkel, wie das alles ineinanderging, ineinanderfloß. Er bewegte sich zu ihm hin. Es entfernte sich von ihm, während es sich anderswo auf ihn zu bewegte. Er jagte ihm durch das Labyrinth nach, es flüchtete. Es war, als ob ein Sturmwind Minotauren und Mädchen durcheinandergeblasen hätte, so wirbelten sie auseinander, durcheinander und einander entgegen, und als ihm das Mädchen in die Arme lief, als er mit einem Male den Leib fühlte, das warme, schweißgebadete Fleisch, und nicht das harte Glas, das er bis jetzt gefühlt hatte, begriff er —
    insofern man beim Minotaurus von Begreifen reden kann —, daß er bis jetzt in einer Welt gelebt hatte, in der es nur Minotauren gab, jeder eingeschlossen in ein gläsernes Gefängnis, und nun fühlte er einen anderen Leib, fühlte anderes Fleisch. Das Mädchen entwand sich ihm, er ließ es geschehen. Es wich zurück, die großen Augen auf ihn gerichtet, und als er zu tanzen begann, begann das Mädchen zu tanzen, und die Spiegelbilder der beiden tanzten mit. Er tanzte seine Ungestalt, es tanzte seine Schönheit, er tanzte seine Freude, es gefunden zu haben, es tanzte seine Furcht, von ihm gefunden worden zu

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