Minotaurus
daß er der Vereinzelte war, der zugleich Aus- und Eingeschlossene, daß es seinetwegen das Labyrinth gab, und das nur, weil er geboren worden war, weil es ein Wesen wie ihn nicht geben durfte, der Grenze willen, die zwischen Tier und Mensch und Mensch und den Göttern gesetzt worden ist, damit die Welt in Ordnung bleibe und nicht zum Labyrinth werde und damit ins Chaos zurückfalle, aus dem sie entstanden war; und wie er das spürte, als ein Fühlen ohne Begreifen, als eine Erleuchtung ohne Erkennen, nicht als eine Menscheneinsicht durch Begriffe, sondern als eine Minotaure-neinsicht durch Bilder und durch Gefühle, brach er zusammen, und wie er dalag, zusammengerollt, wie er im Leib Pasiphaes zusammengerollt gewesen war, träumte der Minotaurus, er sei ein Mensch.
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Er träumte von Sprache, er träumte von Brüderlichkeit, er träumte von Freundschaft, er träumte von Geborgenheit, er träumte von Liebe, von Nähe, von Wärme und wußte zugleich, wie er träumte, daß er ein Unwesen war, daß ihm nie die Sprache, nie die Brüderlichkeit, nie die Freundschaft, nie die Liebe, nie die Nähe, nie die Wärme zufallen würden, er träumte, wie Menschen von Göttern träumen, mit der Traurigkeit des Menschen der Mensch, mit der Traurigkeit des Tieres der Minotaurus. So fand ihn denn Ariadne schlafend vor. Sie kam tanzend mit ihrem Wollknäuel, den sie abrollen ließ, und tanzend, fast zärtlich, wickelte sie das Ende des roten Fadens um seine Hörner, tanzte dem Faden nach wieder hinaus, und als der Minotaurus erwachte, in einem gläsernen Morgen, sah er unzählige Male gespiegelt einen Minotauren auf sich zukom-men, die Augen auf den Wollfaden geheftet, als sei er eine Blutspur. Zuerst dachte der Minotaurus, es sei sein Spiegelbild, auch wenn er immer noch nicht begriff, was ein Spiegelbild sei, aber dann erfaßte er, daß der andere Minotaurus ihm entgegen-21
schritt, während er auf dem Boden lag. Das verwirrte ihn. Der Minotaurus erhob sich und bemerkte nicht, daß das Ende des roten Wollfadens um seine Hörner gewickelt war. Der andere kam näher. Der Minotaurus warf beide Arme hoch, der andere ebenfalls, der Minotaurus wurde argwöhnisch, der andere konnte doch sein Spiegelbild sein, dann schien es ihm wieder, als habe der andere Minotaurus seine Arme nicht gleichzeitig mit ihm hochgeworfen, die Spiegelbilder taten es sonst alle gleichzeitig, aber er konnte sich getäuscht haben, da beide widergespiegelt waren und der andere nun stehengeblieben war.
Der Minotaurus machte einen Tanzschritt, die Spiegelbilder auch, doch diesmal tanzten viele Spiegelbilder verzögert, er konnte es deutlich bemerken.
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Der Minotaurus stand wieder unbeweglich und spähte nach dem anderen Minotaurus, der auch unbeweglich stand. Der Minotaurus versuchte zu denken. Er bewegte den kleinen Finger der rechten Hand, sah scharf hin, bewegte den Finger noch einmal, der andere bewegte den kleinen Finger der rechten Hand, was den Minotaurus beunruhigte, er war unsicher, der andere schien den kleinen Finger an der falschen Hand bewegt zu haben.
Der andere Minotaurus stand unmittelbar vor ihm, aber es konnte auch ein Spiegelbild des anderen Minotaurus sein oder ein Spiegelbild seines eigenen Spiegelbilds, es war vielleicht sogar mit Denken nicht auszumachen, der andere hatte, wenn es einen anderen gab, einen Kopf wie er und einen Leib wie er. Der Minotaurus bewegte die rechte Hand, nun bewegte der andere die linke Hand, fast gleichzeitig, aber vielleicht auch gleichzeitig; und wie der Minotaurus all den Möglichkeiten nachspürte, sah er plötzlich, daß am Leib des anderen Minotaurus oder am Leib des Spiegelbilds des anderen Minotaurus an der Lende ein Gegen-stand geheftet war, etwas Pelzartiges, von dem der Minotaurus zwar nicht wußte, was es war, aber das ihm bewies, daß er einem anderen Minotaurus oder dessen Spiegelbild gegenüberstand.
Der Minotaurus schrie auf, wenn es auch mehr ein Brüllen war als ein Schreien, ein langgezogenes Aufheulen, Aufmuhen und Aufjaulen vor Freude darüber, daß er nicht mehr der Vereinzelte war, der zugleich Aus- und Eingeschlossene, daß es einen zweiten Minotaurus gab, nicht nur sein Ich, sondern auch ein Du.
Der Minotaurus begann zu tanzen. Er tanzte den Tanz der Brü-
derlichkeit, den Tanz der Freundschaft, den Tanz der Geborgenheit, den Tanz der Liebe, den Tanz der Nähe, den Tanz der Wärme. Er tanzte sein Glück, er tanzte seine Zweisamkeit, er tanzte seine Erlösung, er tanzte den
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