Minotaurus
aufbrüllend an, warf sich ihm kopfvoran entgegen, so wie es sich ihm kopfvoran entgegenzu-werfen schien.
Er prallte zurück, glotzte mit wütenden rötlichen Auerochsen-17
augen nach seinem Spiegelbild, das ihn wie er mit wütenden rötlichen Auerochsenaugen anglotzte. Er rannte wieder an, noch heftiger, prallte noch heftiger zurück, kam auf den Rücken zu liegen. Der Mond war immer noch hinter dem Labyrinth, aber er schien durch die Wände, sich in ihnen als Fast-Vollmond widerspiegelnd, die Zacken der Krater seiner noch nicht gerun-deten Seite grotesk vergrößert, und so oft spiegelte sich der Mond wider, daß der Minotaurus in ein Universum aus Stein zu blicken glaubte, das von Narben durchzogen war. Auf diese Mondwelt starrend, fürchtete er, sein Feind habe sich erhoben.
Er rollte sich auf den Bauch, der Verräter hatte sich zwar nicht erhoben, aber lauerte auch auf dem Bauch zu ihm herüber. Der Minotaurus rutschte seinem Spiegelbild entgegen, das sich ihm auf die gleiche Weise näherte, er war bereit, aufzuschnellen und sich über den andern zu werfen, aber indem er den andern beobachtete, spürte er, wollte er aufschnellen, die gleiche Absicht in den Augen des andern.
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Er prägte sich das Gesicht des Verräters ein, pelzbedeckt, die breite Stirn von verfilzten Wollhaaren überwuchert, überhäuft von einem Berg von Glassplittern, die im Mondlicht bläulich funkelten, die kurzen gebogenen Hörner, der sanft geneigte Nasenrücken, das nasse Flotzmaul, die lange bläulichrote Zunge. Der Minotaurus keuchte, so daß der Dampf seiner Nüstern den Spiegel beschlug, dem er sich entgegenschob, worauf er sein Spiegelbild nicht mehr sah, strich, den Nebel zu verscheuchen, unwillkürlich mit der Hand über die Nässe, und überrascht, als hinter der glatten kalten Fläche das riesige Stierengesicht des Verräters unvermittelt auftauchte, schmetter-te er mit der Stirn instinktiv zu, schlug mit ihr an die Wand statt auf die Stirn des andern, die in der Wand war und nicht außer-halb. Er stutzte. Er nahm von der Wand Abstand, funkelte sein Spiegelbild haßerfüllt an, und es ihn, schlug mit der rechten Faust zu, das Spiegelbild mit der linken, die beiden Fäuste trafen sich, erneuter Schlagwechsel mit dem gleichen Ergebnis, darauf schlug er mit beiden Fäusten zu, das Spiegelbild ebenfalls, schließlich trommelte er an die Wand. Er trommelte seine Wut, er trommelte seine Gier zu zerstören, er trommelte seinen Wunsch sich zu rächen, er trommelte seine Lust zu töten, er trommelte seine Furcht, er trommelte seine Rebellion, er trommelte seine Selbstbehauptung, aber auf einmal spürte er, daß dieses Wesen vor ihm, das ein Wesen wie er und dennoch sein Verräter war, weil es ein anderes war und weil alles sein Feind war, was nicht er war, nicht zu fassen war, unangreifbar war.
Zwar hatte er gleich zu Beginn seines Erwachens im Labyrinth
— von dem er noch immer nicht wußte, daß es ein Labyrinth war — gefühlt, daß zwischen ihm und den Minotauren etwas Geheimnisvolles lag, etwas Wandähnliches, aber da er mit ihnen dahingetanzt hatte wie ihr Anführer, wie ihr König, wie ihr Gott, dahin durch das Weltall der Minotauren, hatte er nicht darauf geachtet, aber jetzt, nachdem er das Mädchen genommen und seinen Leib an den ihren und in ihren gepreßt hatte und 19
nachdem er die Leiber der anderen Menschen mit seinen Hörnern durchstoßen und zerfetzt hatte, aus denen es warm und rot herausgequollen war wie aus seinem Leib, spürte er das Unwirkliche dieses Wesens vor ihm, das ihn zwar verraten hatte, aber auch voller Glassplitter war wie er, und vielleicht war sein Gesicht auch blutverschmiert wie das seines Verräters. Er betastete sein Gesicht, betrachtete seine Hände, auch sein Gesicht war blut verschmiert. Er beobachtete sein Spiegelbild mißtrauisch, tat, als ob er es nicht beobachtete, er fühlte, daß es etwas zu sein schien, was es nicht war. Er war entsetzt und neugierig zugleich. Er wich zurück, sein Spiegelbild ebenso, und allmählich ging ihm auf, daß er sich selber sich gegenüber befand. Er versuchte zu flüchten, doch wohin er sich auch wandte, stets stand er sich selber gegenüber, er war eingemauert von sich selber, überall war er selber, endlos war er selber, vom Labyrinth ins Unendliche widergespiegelt. Er spürte, daß es nicht viele Minotauren gab, sondern nur einen Minotaurus, daß es nur ein Wesen gab, wie er eines war, ein anderes nicht vor ihm und ein anderes nicht nach ihm,
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