Mirad 03 - Das Wasser von Silmao
er froh gewesen, Nisrah wieder los zu sein. Das merkwürdige Geschöpf blieb für ihn ein großes Mysterium.
Anders die einstige Herrin der Seeigelwarte. Ergil nannte sie bisweilen seine »Wegbereiterin« und mit dieser Rolle konnte der einfach strukturierte Verstand des jungen Ritters sich leichter anfreunden. Múrias Weisheit galt als noch beachtlicher als ihre viel besungene Schönheit – und das wollte etwas heißen.
Äußerlich wirkte das Paar auf der Bank völlig teilnahmslos. Hätten die beiden sich zu einem amourösen Abenteuer in die königlichen Gemächer zurückgezogen, dann wären sie wohl schon beim ersten Quietschen der Tür aufgesprungen oder zumindest auf Abstand gegangen. Stattdessen verharrten sie nebeneinander, ihre Augen blieben geschlossen, Múrias Antlitz wirkte gelöst, das ihres Schülers eher angespannt.
Popi betrat den Raum. Dabei legte er dieselbe Behutsamkeit an den Tag, die man einem Schlafwandler gegenüber walten lässt, den man zwar beobachten, aber auf keinen Fall wecken darf. Leise schlich er sich zur nächstbesten Sitzgelegenheit, von der aus er sowohl die Tür als auch das Paar im Auge behalten konnte. Er würde über die beiden wachen, bis sie wieder ins Hier und Jetzt zurückkehrten. Das konnte eine Weile dauern. Als Ergil seinerzeit das Schiff des Sirilimkönigs wie aus dem Nichts in die Bucht von Silmao befördert hatte, war sein Geist mehrere Stunden auf Wanderschaft gewesen.
Der junge Ritter stützte sich mit beiden Händen auf die Armlehnen, um sich geräuschlos in den Sessel sinken zu lassen. Auf halbem Wege zwischen Stehen und Sitzen bemerkte er plötzlich eine Veränderung in Ergils Gesicht. Ein Ausdruck des Schreckens erschien darauf. Er zitterte am ganzen Körper.
Und dann begann er unsichtbar zu werden.
Sofort stand Popi wieder auf den Füßen. Einen Moment lang starrte er nur ungläubig auf das Paar. Beide hatten nach wie vor die Augen geschlossen, aber die Entspanntheit war aus Múrias Miene gewichen. Die von ihr abgewandte Seite des Königs wurde zusehends durchsichtiger. Als er sich ungefähr zur Hälfte aufgelöst hatte, vergaß Popi alles, was er über Schlafwandler wusste, und eilte zu seinem Herrn. Er streckte die Hand aus, um ihn an der verbliebenen Schulter zu rütteln. Doch ehe er ihn berühren konnte, öffnete die Geschichtsschreiberin die Augen.
Múrias Blick war von einer strengen Kälte, die Popi einen bläulich roten Schauer bescherte und ihn förmlich erstarren ließ. Sie legte den Zeigefinger der freien Hand an ihre Lippen und formte mit ihnen ein lautloses Pscht!
Es sah aus, als würde die Sooderburg Stein für Stein abgetragen. In atemberaubender Geschwindigkeit schrumpften die Mauern und Gebäude vor Ergils innerem Auge bis auf die Fundamente zusammen. Zuletzt blieb nur noch die nackte Klippe übrig. Immer weiter reiste sein Geist durch die Äonen zurück. Eine Generation währte nur einen Herzschlag lang. Sommer und Winter flackerten vorüber wie die Sonnenscheibe hinter einem sich schnell drehenden Windrad.
Mit Múrias und Nisrahs Hilfe war es ihm ein Leichtes gewesen, die Gegenwart zu verlassen, um den nördlichen Außenposten der Sirilim in ferner Vergangenheit aufzuspüren. Mit etwas mehr Anstrengung hätte er es wohl auch ohne seine Meisterin geschafft, doch Ergil wollte sich nichts beweisen, er wollte nur seine Mutter finden.
Der Umstand, dass jeder Sirilo in die Welt und diese zugleich vollständig in ihn eingefaltet war, barg auch Schwierigkeiten. Eine bestimmte Person in den verwirrenden Verwerfungen aus Zeit und Raum aufzuspüren, war ohne Hilfen ebenso aussichtslos, wie einen Himmelskörper nur anhand des Namens am nächtlichen Firmament auszumachen. Wusste man jedoch, in welchem Sternbild er sich verbarg, dann nahmen die Erfolgsaussichten beträchtlich zu. Ganz ähnlich war es mit Ergils Gabe der Durchdringung. Er brauchte einen Anhaltspunkt – einen möglichst nahen Ort oder einen Gegenstand –, von dem aus er sich »weiterhangeln« konnte. Ersteres bot der Knochenturm auf der Sooderburg. Er war das Verbindungsglied zur Vergangenheit des Alten Volkes. Und durch ihn fand Ergil tatsächlich, was er vor einem halben Jahr schon einmal im Traum gesehen hatte: den Sirilimpalast.
So wie damals erstrahlten die aus Drachenbein erschaffenen Gebäude im Sonnenschein. Ergil bewunderte die fremdartigen Formen, während sein Geist wie ein Vogel über die Anlage hinwegschwebte. Alles wirkte wie natürlich gewachsene Gebilde,
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