Miss Emergency
eben um auf Verkäuferin, andere sind damit auch glücklich.
Eine kleine Omi reißt mich aus meinen Gedanken. Sie sitzt auf dem Flur in einem der gelblichen Schalenstühle, hustet fürchterlich und krümmt sich wie ein hilfloser Wurm um die Handtasche in ihrem Schoß. Ich spreche sie an. Hat sie Schmerzen? Die Omi nickt, wiegelt aber sofort wieder ab.
»Es wird sich bestimmt bald jemand um mich kümmern. Die Schwester hat gesagt, dass gleich ein Arzt kommt.« Gemeinsam spähen wir den tristen Krankenhausflur hinunter. Niemand ist zu sehen. Wie lange ist dieses Versprechen denn her? Die Omi lächelt ängstlich: »Höchstens eine halbe Stunde.« Und dann hustet sie wieder erbarmungswürdig. Eine halbe Stunde? Mit diesem Husten und den Schmerzen beim Atmen ist eine halbe Stunde Wartezeit eine probate Foltermethode für Schwerverbrecher. Mich beschleicht der Verdacht, dass man die Frau schlicht vergessen hat. Davon sage ich der Omi natürlich nichts – selbst ich kann aus Fehlern lernen, wenn sie nicht länger als 10 Minuten her sind!
Ich knie mich hin und fühle den rasenden Puls der armen Frau, die unter ihren Hustenanfällen entkräftet nach Luft schnappt. Wahrscheinlich hat sie hohes Fieber. Die Omi stöhnt auf. Sie hat starke Schmerzen. In meinem Hirn blättern Lehrbuchseiten auf. Eine typische Pneumonie äußert sich mit Husten, Brustschmerzen, Atemnot und Fieber. Alles klar. Meine erste Diagnose. Sicher und souverän gestellt – und im Handumdrehen. Ich hatte erwartet, diesen Moment mit Sekt und Plätzchen zu feiern – doch jetzt ist an stolze Selbstlob-Partylaune nicht zu denken. Die Frau braucht schleunigst Hilfe. In meinem Kopf rattert es. Sie braucht Antibiotika und sollte dringend in ein Bett; gerade ältere Patienten sind anfällig für fiese Folgekrankheiten. Und vor allem braucht die Frau ein Schmerzmittel, das ist ja nicht mit anzusehen. Am Ende des Ganges steht ein verwaister Rollstuhl. Ich verfrachte die röchelnde Frau hinein. In diesem Krankenhaus muss sich keine kleine Omi schmerzverzerrt auf einem Flur-Stühlchen krümmen, nur weil sie zu schüchtern ist, sich bemerkbar zu machen. Nicht, solange ICH da bin! Lena Weissenbach, die Ärztin mit Herz, Retterin aller gequälten, scheuen Omis. Ich weiß, eben noch wollte ich den ersten Arbeitstag unter »versagt« ablegen und Verkäuferin werden – aber vorher werde ich diese Frau retten.
Hinter mir klackern energische Schritte über den Gang. Ach,verdammt, Herr Ritter! Den hatte ich ja ganz vergessen. Bestimmt kündigt das Geräusch den Oberarzt an, der sich gebieterisch dem Tatort Krankenzimmer nähert, um von meiner unprofessionellen Entgleisung gegen den verängstigten Patienten zu erfahren. Ich kann gerade nicht gucken, denn die Transportsicherung der Omi im Rollstuhl fordert meine ganze Aufmerksamkeit. Ich hänge über dem Rollstuhl und hadere mit der Gurtschließe, als die Schritte hinter mir verstummen.
»Was tun Sie denn da?«
Na klar! Die sonore Stimme des Oberarztes, die sich mir seit heute Morgen so eingebrannt hat, dass sie die penetrante Melodie meines Weckers ersetzen könnte. Und was kriegt der Chef zu sehen, als er zum zweiten Mal an diesem Tag seiner neuen Anfängerin begegnet? Natürlich: meine schönen Beine.
»Was für ein reizendes Wiedersehen!«, sagt Dr. Thalheim. Zu meinem Hintern.
Leseempfehlung:
Verena Carl, Der Himmel über New York
Als E-Book ebenfalls im Planet Girl Verlag erschienen:
Verena Carl
Der Himmel über New York
ab 15 Jahren
ISBN 978 3 522 63025 2
New York, der Ort, wo die Häuser den Himmel küssen. An dem die bunten Lichter mit den Sternen um die Wette leuchten. Hier möchte Jenny nach dem Abitur ihr eigenes Leben beginnen und lernt den gut aussehenden Leroy kennen, der ihr zeigt, wo das Herz der Metropole schlägt – im Rhythmus der Klubs und der Slam-Poeten, die wie Leroy ihre Geschichten von der Straße erzählen. Jenny verliebt sich leidenschaftlich in diese Stadt und in Leroy. Doch die aufregende Fassade New Yorks kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass alles seine Schattenseite hat. Denn daheim wartet Jennys Freund Max auf sie. Und auch Leroy hat seine Geheimnisse …
Stimmen zum Buch:
Jenny, Hauptperson aus 'Der Himmel über New York', ist keine perfekte, liebe Heldin, sondern ein etwas planloses, oft auch schroffes Mädchen – und wirkt damit umso glaubwürdiger. Genauso wie die Beschreibungen New Yorks.
A. Wilken in Nordsee-Zeitung
Melina, 14 schrieb am 28.02.12
Ich
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