Miss Emergency
denken kann, waren Die Erwachsenen immer die anderen: Lehrer, Eltern, Freunde von Eltern. Auf einmal gehöre ich selbst zum anderen Lager. Seit 14 Monaten darf ich Auto fahren, eine Firma gründen oder den Bundeskanzler wählen. Meine Freundinnen bezeichnen sich nicht mehr als Mädchen , sondern als Frauen . Es gibt auch keine Jungs mehr, sondern die Männer . Keiner dieser Begriffe passt mir. Worte wie T-Shirts, in einer Größe zu eng, in der nächsten zu weit.
An meinen Nachnamen kann ich mich auch nicht gewöhnen. Wenn jemand Frau Ritter ruft, drehe ich mich um und schaue, ob irgendwo meine Mutter steht. Auch so ein Wort, in das ich erst hineinwachsen muss.
Ich setze die Kopfhörer ruckartig ab, denn ich möchte ungern in mehreren Tausend Metern Höhe mit einer 150-Kilo-Frau streiten. Schließlich muss ich es noch ein paar Stunden neben ihr aushalten. Im gleichen Moment merke ich, dass ich einen Fehler gemacht habe. Einen gewaltigen. Anscheinend hat meine Reaktion sie milde gestimmt. Jetzt lächelt sie sogar! Wahrscheinlich tut es ihr leid, dass sie mich so angefahren hat. Und jetzt will sie sich auch noch unterhalten.
»Na, auf dem Weg in den Urlaub?«, fragt sie und streckt mir die Hand entgegen. Ihre Fingerknöchel sind kleine Grübchen im Fleisch.
Ich atme tief ein und wieder aus. Also gut. Schließlich habe ich darauf gewartet, dass jemand diese Worte zu mir sagt. Wenn ich ehrlich bin, habe ich mir den Fragestellerzwar etwas glamouröser vorgestellt als meine gepunktete Reisebekanntschaft, aber man kann sich sein Publikum nicht aussuchen.
Jedenfalls weiß ich schon ganz genau, was ich antworten werde. Und jetzt probiere ich meinen Satz zum ersten Mal aus.
»Nein«, sage ich, »ich werde eine Zeit lang in New York leben.«
Der Satz hört sich gut an. Sogar noch besser als zu Hause vor dem Spiegel. Zugegeben, eine Zeit lang klingt nach mehr als den vier Wochen, um die es in Wirklichkeit geht. Aber gelogen ist es nicht.
Sie sieht mich mit einer Mischung aus Argwohn und Neugier an.
»Sie haben Verwandte in Amerika?«, hakt sie nach.
»Nicht direkt.«
»Und was haben Sie dann dort vor?«
Ich stelle die Lehne noch ein Stück zurück, um besser an ihr vorbeisehen zu können.
»Leben«, wiederhole ich und fahre mir mit der Hand durchs Haar.
»Und Ihre Eltern zahlen das?«
Ich kann mir schon denken, was als Nächstes kommt. Also, wenn Sie meine Tochter wären … Aber sie bleibt still. Hat ihr wohl die Sprache verschlagen.
Ich schließe die Augen und täusche ein Nickerchen vor. Dabei denke ich an meinen Vater. Ohne ihn säße ich nicht hier.
Zum ersten Mal haben wir im April über New York gesprochen, ein paar Wochen vor den letzten Abiklausuren. Wir saßen in einem Lokal im Schwarzwald, in das er mit mir gefahren war, weil ich es angeblich als kleines Mädchen so mochte, und an das ich mich nicht erinnern konnte. Es hieß so ähnlich wie alle anderen – Zum Goldenen Adler, Bärenhöhle, Gasthof Kreuz – und sah auch so aus: geblümte Vorhänge, Holztische, ein blauer Kachelofen in der Ecke. Spargelgerichte in 17 Variationen auf einem Extrablatt, das vorne im Kunstledereinband einer Speisekarte steckte.
Vielleicht unterhielten wir uns an diesem Abend offener, weil meine Mutter nicht dabei war. Obwohl unser Gespräch so anfing wie alle anderen, die wir in den Monaten davor zu dritt geführt hatten. Während ich ein Stück Schinken zerpflückte und die Fetzen um den Tellerrand verteilte, käute ich wieder, was mir durch den Kopf ging. Besser gesagt: das, von dem meine Eltern erwarteten, dass es mir durch den Kopf gehen müsste.
Es war die Zeit, in der mich alle fragten: »Und, was willst du werden?« Als sei ich so eine Art Insektenlarve, die sich noch entpuppen muss. Also erzählte ich wieder von den Bewerbungsbögen der Münchner Schauspielschule, vom Tag der offenen Tür an der Uni und einer Jura-Vorlesung, bei der es um den Unterschied zwischen Geld- und Freiheitsstrafen gegangen war. Von Bachelor- und Master-Abschlüssen, als stände ich an der Tafel undwürde abgefragt. Danach erwähnte ich einen Studienzweig namens Online-Marketing. Ich konnte mir nichts Genaues darunter vorstellen, hoffte aber, meinen Vater zu beeindrucken. Ich fand das ganze Projekt »Erwachsenenleben« reichlich verwirrend. Ungefähr, als müsste man sich beim Chinesen etwas aus einer zentimeterdicken Speisekarte aussuchen, die zu allem Überfluss auch noch auf Chinesisch gedruckt war.
»Du weißt immer noch nicht,
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