Miss Lily verliert ihr Herz
Mal oder öfter gehört hatte. Stets hatte sie sich um Geduld bemüht. Heute jedoch regte sich ihr Widerspruchsgeist. „Gibt es nicht auch Vergnügen, die keineswegs sündig sind?“, gab sie zu bedenken. „Ist nicht Lady Ashfords Wohltätigkeitsbasar ein Versuch, das Gott Wohlgefällige mit dem Angenehmen zu verbinden?“
Einen Moment lang spiegelte das Gesicht ihres Begleiters Ablehnung und Verachtung wider. Doch dann begann Mr. Cooperage zu Lilys Überraschung zu lachen. „Ihre Unschuld ist erfrischend, Miss Beecham. Indes glauben Sie mir, die meisten Menschen in London würden ihr Geld lieber aus dem Fenster werfen, als damit unsere gute Sache zu unterstützen.“
„Das kann ich mir nicht vorstellen. Nein! Ich bin davon überzeugt, dass …“
Sie überlegte, wie sie sich ausdrücken sollte. Ihr Vater war ein fröhlicher, lebensbejahender Mann gewesen. Nie hatte er ihr vorgeworfen, dass sie manchmal eigenwillig, dabei aber allem Neuen gegenüber aufgeschlossen war. Nie hatte er sie mit diesem tadelnden Blick gemustert, der so typisch für ihre Mutter war. Er hatte mit ihr gelacht und gescherzt. Und dabei war er doch ganz gewiss ein gläubiger Mensch gewesen.
„… dass man sich von ganzem Herzen für die gute Sache einsetzen und trotzdem Freude am Leben haben kann“, vollendete sie ihren Satz.
„Freude am Leben?“, wiederholte der zukünftige Missionar fassungslos. „Meine liebe Miss Beecham, wir wandeln nicht auf Erden, um den Freuden des Lebens nachzujagen! Sie sollten wissen …“ Er unterbrach sich, warf einen kurzen Blick auf ihr Gesicht und wechselte das Thema. „Ich bin natürlich sehr dankbar für alles, was Sie und die anderen Damen heute getan haben, damit ich den armen, unwissenden Heiden in Indien das Evangelium bringen kann.“
„Sie warten gewiss voller Ungeduld darauf, Ihre Arbeit dort zu beginnen. Es muss wundervoll sein, diesen Menschen zu helfen. Außerdem werden Sie viel Neues erleben! Die fremde Kultur, die exotischen Landschaften, die seltsamen Sitten … Ich beneide Sie fast ein wenig.“
„Das sollten Sie nicht! Ich bin natürlich bereit, mich mit heidnischem Essen, schmutzigen Unterkünften und der zu erwartenden Einsamkeit abzufinden. Schließlich habe ich eine Aufgabe zu erfüllen! Aber ich würde niemals wollen, dass eine Dame die Gefahren und Unbequemlichkeiten einer solchen Reise auf sich nimmt.“
„Und wenn eine Dame die gleiche Berufung fühlt wie Sie? Oder halten Sie das für ausgeschlossen?“
„Es erscheint mir unwahrscheinlich, aber nicht ausgeschlossen. Ihre Mutter beispielsweise scheint den Ruf gehört zu haben.“
Ihre Mama sollte berufen sein? Wozu?
„Meine Arbeit wird mich für etwa ein Jahr in Indien festhalten“, fuhr Mr. Cooperage fort. „Doch Mrs. Beecham hat mir versichert, dass es keine anderen Bewerber um Ihre Hand gibt und dass die Wartezeit nicht zu lang ist.“
Fassungslos starrte Lily ihn an. Sie war zutiefst schockiert. Ihre Mutter wollte den Missionar heiraten? „Sie haben um meine Mama angehalten?“, stieß sie hervor.
Er lachte. „Aber nein! Wie bescheiden Sie doch sind, meine Teure! Sie selbst sind es, die ich zur Gemahlin nehmen möchte.“
„Oh …“
„Ihre Frau Mutter hat bereits ihr Einverständnis gegeben.“
Lily stand wie versteinert. Nach dem Willen ihrer Mama sollt sie Mr. Cooperage ehelichen? Welch schreckliche Vorstellung! Ihr Leben würde noch unerträglicher werden, wenn sie die Gattin des Geistlichen wurde.
„Miss Beecham? Ist Ihnen die Wartezeit zu lang?“
Sie musste sich zwingen, Atem zu holen. In ihrem Kopf schien sich alles zu drehen. Sieben Jahre lang hatte sie sich bemüht, ihrer Mutter eine Stütze zu sein. Während all dieser Zeit hatte sie den größten Teil ihres wahren Wesens unterdrücken müssen. Musste sie nun auch noch all ihre Zukunftsträume opfern?
Sie machte einen Schritt nach hinten. Dann noch einen. Dass sie dadurch der Bordsteinkante gefährlich nahe kam, war ihr nicht bewusst. Sie wollte nur Abstand zwischen sich und diesen Mann legen, der ihr plötzlich so bedrohlich erschien.
„Vorsicht, Miss Beecham!“, rief Mr. Cooperage.
Sie trat noch weiter zurück. Dann plötzlich hörte sie lautes Pferdeschnauben und drehte sich um. Zwei Hengste, die einen Phaeton zogen, rasten auf sie zu. Die Tiere rollten mit den Augen und warfen die Köpfe hoch.
Lily stieß einen Schrei des Entsetzens aus.
2. KAPITEL
Jack Alden zog die Zügel mit solcher Kraft an, dass ein stechender Schmerz
Weitere Kostenlose Bücher