Miss Lily verliert ihr Herz
wunderbare Stadt kennenlernen! Gewiss würde sie wunderbare neue Dinge erleben. Alles würde anders werden.
Doch ihre Hoffnungen hatten sich nicht erfüllt. In London war sie von ihrer Mutter von einem religiösen Treffen zum nächsten geschleppt worden. Sie hatte langen Vorträgen über christliche Tugenden – von denen sie auch daheim Tag für Tag gehört hatte – und nicht minder langen Reden über die Abschaffung der Sklaverei – die sie seit langem befürwortete – gelauscht. Ein Museum oder ein Theater allerdings hatte sie in all den Wochen nicht betreten.
Zurückblickend musste sie erkennen, dass ihre Umgebung, nicht jedoch ihre Situation sich geändert hatte.
„Mr. Cooperage wird als Missionar gute Arbeit leisten“, sagte Mrs. Beecham, ohne von ihrer Stickerei aufzuschauen.
„Das wird er – vorausgesetzt, die Stände im Park können bessere Einnahmen verbuchen als wir. Hier am Büchertisch haben wir ja kaum etwas verkauft. Selbst die preisgünstigen Hefte mit Traktaten will anscheinend niemand haben. Von unserem Verdienst kann Mr. Cooperage sich wahrscheinlich nicht einmal eine Fahrt ans andere Ende der Stadt leisten. Und eine Schiffsreise nach Indien …“
Mrs. Beecham runzelte die Stirn.
„Schon gut, Mama, ich wollte nichts Ungehöriges sagen.“ Lily stellte sich auf die Zehenspitzen und versuchte, einen Blick ins Innere des Parks zu erhaschen. „Ich glaube, an den anderen Ständen herrscht mehr Betrieb.“
Mrs. Beechams Stirnrunzeln verschwand und machte einem Lächeln Platz, als sie eine junge Dame bemerkte, die gerade ihrem Begleiter etwas zuflüsterte und dann zum Stand kam. Auch Lily setzte ein strahlendes Lächeln auf, während sie insgeheim das mit Bändern verzierte fliederfarbene Nachmittagskleid der hübschen Blondine bewunderte.
„Guten Tag“, sagte die Dame und musterte die ausgestellten Schriften, „mir scheint, die Werke von Miss Vaganti sind ausverkauft?“ Ihr Blick ruhte einen Moment lang auf Lilys Lektüre.
Wahrhaftig, das Büchlein, das sie heimlich gelesen hatte, war zwischen den Seiten von Mrs. Mores frommen Zeilen so weit herausgerutscht, dass man den Namen Vaganti erkennen konnte!
„Mir hat ‚Der Smaragd-Tempel‘ wirklich gut gefallen. Und nun dachte ich, ich könnte bei Ihnen vielleicht ‚Die verbotene Stadt des Pharaos‘ bekommen.“
Mrs. Beecham hatte die Stirn schon wieder in Falten gelegt. „Vielleicht dürfen wir Ihnen etwas Besseres empfehlen? Sie scheinen fantasievolle Texte zu bevorzugen. Da interessieren Sie sich bestimmt für Bowdlers große Shakespeare-Ausgabe.“
Lachend schüttelte die Kundin den Kopf. „O nein! Meiner Meinung nach ist es eine Schande, die Werke unseres großen Dichters eigenmächtig zu verändern, so wie Bowdler das getan hat. Ich weiß wirklich nicht, was er an den Originaltexten auszusetzen hat. Ich jedenfalls liebe Shakespeares Gedichte, Komödien und Dramen gerade so, wie er sie verfasst hat.“
Lily hätte ihr am liebsten lauthals zugestimmt. Doch Mrs. Beecham setzte zu einer belehrenden Rede an. Ehe sie indes etwas sagen konnte, fuhr die junge Dame freundlich fort: „Ich finde es wunderbar, dass Sie Lady Ashford und ihre Ziele unterstützen. Erlauben Sie, dass ich mich vorstelle? Ich bin Miss Dawson.“
Da ihre Mutter unzufrieden die Lippen zusammenpresste, sagte Lily rasch: „Das ist meine Mutter Mrs. Beecham. Ich selbst heiße Lily Beecham.“
Miss Dawson rumzelte die Stirn. „Ich bin mir ziemlich sicher, dass wir Verwandte haben, die ebenfalls Beecham heißen. Und zwar in Dorset. Sie kommen nicht zufällig von dort?“
„Doch“, gab Lily überrascht zurück. „Wir halten uns nur für ein paar Wochen in London auf und …“
In diesem Moment rief der Gentleman nach der jungen Dame.
„Oh, ich muss weiter! Es war mir eine Freude, Sie kennenzulernen. Das ist übrigens mein Bräutigam, Lord Lindley. Er liest die Romane von A. Vaganti genauso gern wie ich, aber das würde er vor anderen niemals zugeben.“ Sie beugte sich vor und griff nach Lilys Hand. „Ich hoffe, wir sehen uns bald wieder, liebe Cousine.“
Sprachlos vor Erstaunen konnte Lily nur stumm nicken. Sie schaute Miss Dawson nach, als diese an der Seite ihres Verlobten in Richtung Park weiterging. Ein kleiner Seufzer entschlüpfte ihr. Wenn ihr Papa nicht gestorben wäre, hätte Miss Dawson vielleicht ihre Freundin werden können. Sie hätten sich gegenseitig spannende Romane empfohlen, interessante Gespräche geführt und gemeinsam lange
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